Wer liest, kommt weiter
geben kann, am 20.12. waren es laut der »alten Version« noch 129 Millionen, in der »Standardversion« wurden und werden keine Zahlen mehr angegeben. Vor 2001, als Google, wohl auch um das Erotik-Geschäft zu beleben, seine Fotosuche einführte, war unsere Phantasie jedenfalls noch freier.
Nicht nur bei Prosatexten, auch beim Lesen von Gedichten sehen wir Bilder. Denn auch hier möchte der Dichter das, was er selber sieht – in Wirklichkeit, in der Erinnerung oder in seiner Phantasie –, so schildern, daß wir beim Lesen etwas Ähnliches sehen können wie er beim Schreiben:
Friedrich Hölderlin (1770–1806/1843):
Hälfte des Lebens (1803)
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Dieses berühmte Gedicht von Friedrich Hölderlin, der sechsundzwanzigeinhalb Jahre als Wahnsinniger in Tübingen verbrachte, bevor er im Alter von 73 Jahren starb, kann eine junge Leserin oder einen jungen Leser ein Leben lang begleiten.
Um es besser zu verstehen, könnten beide versucht sein, bei Google nachzusehen, und am 17.12.2011 die ersten drei von 15.200 Treffern zu Hälfte des Lebens lesen (am 17.6.12 waren es 201.000, am 20.12. dann 599.000 Treffer). Zuerst eine Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation, die so beginnt:
In dem Gedicht ›Hälfte des Lebens‹ von Friedrich Hölderlin, das 1803 von ihm verfasst wurde, nimmt beschreibt [beides! F.D.] das lyrische Ich die Natur und nimmt Bezug auf das Thema der Überschrift, indem die zwei Hälften des Lebens beschrieben werden.
Der zweite Treffer war der Wikipedia-Artikel. Hier die beiden ersten Sätze: Hälfte des Lebens ist ein bekanntes Gedicht von Friedrich Hölderlin aus dem Jahr 1805. Auch Verehrer Hölderlins konnten dieses Gedicht nicht einordnen.
Schließlich drei Sätze des dritten »Treffers«:
Auf den ersten Blick können wir das Gedicht »Hälfte des Lebens« fast nur mit einem Kommentar »erklären«. Schon der Titel scheint das ganze Gedicht zu deuten – ein »memento mori«, das sich bei der Sichtung des Gedichtes zu bestätigen scheint. Ein Mensch, der sich der Vergänglichkeit des Lebens bewußt wird, dargestellt anhand der Jahreszeiten.
Wie kommt es, daß das Internet von solchen gut gemeinten, aber unbeholfenen Texten wimmelt, die sich ständig vermehren und den Zugang zu vielleicht besseren Texten erschweren?
Weil jeder sich zu Wort melden kann, melden sich zu viele zu Wort. Und viele Texte werden vor der Veröffentlichung zu wenig korrigiert. Lehrer, die ihre Schüler im Internet »recherchieren« und solche Texte lesen lassen, dürfen sich jedenfalls nicht wundern, wenn die Schüler dabei wenig oder nichts lernen, aber viel oder sehr viel Zeit verlieren.
Doch genug der Lesefrüchte aus dem Internet. Uns geht es um die Frage, wie wir beim Lesen das Sehen lernen können.
Hier sehen wir schon beim Lesen der ersten Verse die wohlschmeckenden und duftenden gelben Birnen an einem Baum hängen, wir sehen und riechen die Rosen, die wir uns rot vorstellen, die Halbinsel entsteht vor unseren Augen, doch das Schönste sind die im See dahingleitenden weißen Schwäne. Dies Bild ist so schön, daß der Dichter die Schwäne anspricht und mit ihnen das Haupt ins kühle Wasser tauchen möchte.
Doch da überkommt ihn die plötzliche Angst vor dem realen Winter, dem alle Schönheit des Herbstes fehlt, und vor allem dem Winter des Lebens: Weh mir, wo nehm ich ... Als ob Hölderlin beim Schreiben dieses Gedichts die andere Hälfte seines Lebens und die Jahre des Wahnsinns vorausgesehen hätte!
Diese heftige Reaktion auf ein Naturbild erinnert an Friedrich Nietzsche, der Friedrich Hölderlin natürlich kannte und beim Schreiben von Vereinsamt auch an ihn gedacht haben mag, als er beim Anblick der Krähen vor Winters »Weh dem, der keine Heimat hat!« ausruft und damit Weh mir meint.
Und wie Nietzsche mit sich selber spricht, so sieht Hölderlin als Antwort auf seine Frage nur sprachlose Mauern. Und wie zum Hohn klirren im Winde die Fahnen, die Wetterfahnen, die wie Nietzsches Krähen kreischen.
Das alles sehen wir mit den Augen und hören wir mit den Ohren des Dichters, ohne wirklich zu sehen und zu hören – alles in unserer Vorstellung,
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