Wer liest, kommt weiter
ist seit Jahrhunderten in etwa gleich geblieben, auch das Notenlesen, welches ein besonderes Lesen ist und höchste Konzentration verlangt. Wie bei den Zahlen führt jede falsch gelesene Note zu einem unrichtigen Ergebnis. Auch deshalb ist die Musik mit der Mathematik verwandt. Ein Wort kann ich erkennen, wenn ich nur einen Teil gesehen habe, bei Zahlen, bei Noten und Melodien geht das nicht. Deshalb übt man beim Notenlesen auch das genaue Lesen von Texten.
Beim Lesen von Texten und Noten kommt das Hören hinzu. Ich höre, was ich lese. Aber das Notenlesen ist meistens nur eine Vorstufe für das Singen oder Musizieren. Und wenn der Musiker ein Instrument spielt, dann setzt er nicht nur Noten in Töne um, sondern auch in Bewegungen und in oft mehrstimmige Gebilde, die ein gleichzeitiges Denken, Fühlen und Bewegen auf verschiedenen Ebenen (Melodik, Harmonik, Rhythmik, Form etc.) und in verschiedenen Stimmen nötig macht.
Und indem ich singe oder ein Instrument spiele, höre ich die Musik, die ähnlich wie das meiste, was wir lesen, ein weit höheres Niveau hat als das, was ich selbst erreichen kann. Und da wir beim Singen und Musizieren selbst im höchsten Maße aktiv und produktiv sind, sind wir auch glücklich dabei. Denn alle lieben mehr, was mit Mühe zustande gekommen ist, so Aristoteles im 9. Buch der Nikomachischen Ethik. Und beim Musizieren tun wir zudem noch etwas besonders Schönes. Die Musik wird nicht ohne Grund eine himmlische Kunst genannt. Um weiterzukommen, müssen wir jedoch mit Disziplin üben, aber wir sehen wie beim Sport den Sinn des Übens ein, weil wir unsere Fortschritte hören und uns darüber freuen können. So trägt das Musizieren nicht nur zur geistigen und emotionalen Entwicklung der Kinder bei, sondern auch zu ihrem Lebensglück.
Aber auch beim Lesen bringen wir, wie beim Musizieren, das vom Autor Geschriebene uns selbst zu Gehör. Auch das ist eine Aktivität auf hohem Niveau. Doch wir hören nicht nur, was der Autor uns sagt, wir sehen auch, was er zeigt, und lernen so beim Lesen auch besser sehen. Ref 27
9. Wer liest, lernt auch besser sehen
Vor fast 3000 Jahren schrieb ein frommer Jude die Geschichte von der Erschaffung der Tiere und des Menschen im Paradies auf, die am Anfang der Bibel zu lesen ist:
Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen. (1. Mose 2, 19f.)
Diesen Auftrag, den Tieren, aber auch allem, was er sieht, Namen zu geben, hat der Mensch seit jeher sehr ernst genommen. Auch werdende Eltern überlegen oft monatelang, wie sie ein Kind nennen sollen. Warum? Weil der Mensch sich nur dann die Erde untertan machen kann (was er neuerdings auf erschreckende Weise übertreibt), wenn er alles benennen und so über alles sprechen kann.
Wie aber lernt der Mensch das Sehen? Hören kann, wie schon mehrfach erwähnt, das Kind schon im Mutterleib. Sehen lernt das Neugeborene erst allmählich. Zu Beginn kann es nur etwa 25 cm weit scharf sehen, nämlich von der Mutterbrust bis zum Gesicht der Mutter. Farben kann das kleine Kind erst nach mehreren Monaten sehen. Warum? Weil das Sehen erst dann wirklich notwendig wird, wenn wir uns bewegen und dabei orientieren müssen. Das Hören, genauer das Hören der Muttersprache, ist hingegen von Anfang an wichtig, weil das Kind nur hörend die Sprache lernen und in die Sprache und das Denken hineinwachsen kann. Welche Verbindung aber besteht zwischen Hören, Sprechen und Sehen?
Daß ein Hund Wauwau, ein Auto Auto und ein Stoffbär Teddy heißt, hört und erfährt das Kind von seinen Eltern. Und wenn es weiß, wie die Menschen, die Tiere und die Dinge heißen, kann es sie auch besser sehen und einordnen.
Wer liest, lernt die Wirklichkeit besser sehen
Da war ein Gewächs mit zinnoberroten Bündeln kleiner Blüten, das hieß brennende Liebe, und eine zarte Staude trug an dünnen Stengeln hängend viele herzförmige rot und weiße Blumen, die nannte man Frauenherzen, und ein anderer Strauch hieß die stinkende Hoffart.
Vermutlich hat Hermann Hesse die Namen dieser Pflanzen im elterlichen Garten von seiner Mutter gehört. Wir aber erfahren diese Namen aus seiner Erzählung Der Zyklon (1917) und erkennen dann vielleicht in anderen Gärten die brennende Liebe
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