Wer liest, kommt weiter
sich dieses ihr anhaftenden Duftes gar nicht bewußt war; denn wenn bei uns am Sonntag, nach Kalbsbraten mit Stampfkartoffeln und Blumenkohl in brauner Butter, ein Vanillepudding auf dem Tisch zitterte, weil ich mit dem Stiefel gegen ein Tischbein stieß, aß Maria, die für Rote Grütze schwärmte, davon nur wenig und mit Widerwillen ... Ref 33
Schließlich der Tastsinn, sozusagen der unterste der fünf Sinne, weil wir vor allem mit den Händen und Füßen tasten. Der Tastsinn ist aktiv, wenn wir greifen (haptisch), und passiv, wenn wir auf der Haut etwas empfinden (taktil). Auch den Tastsinn können wir beim Lesen spüren. Der Blechtrommler Oskar, inzwischen 16, darf, weil er so klein ist, im Ostseebad Zoppot mit Maria in die Damenabteilung und liegt neben ihr im Sand. Da kommt er auf die Idee, ihr Brausepulver in die Hand zu schütten und die Brause mit viel Spucke in Wallung zu bringen:
In Marias Hand begann es zu zischen und zu schäumen. [...] Da spielte sich etwas ab, was Maria noch nicht gesehen und wohl noch nie gefühlt hatte, denn ihre Hand zuckte, zitterte, wollte wegfliegen, weil Waldmeister sie biß, weil Waldmeister durch ihre Haut fand, weil Waldmeister sie aufregte, ihr ein Gefühl gab, ein Gefühl, ein Gefühl ...
Dies ist ein Teil der ersten »Brausepulver-Episode« in der Blechtrommel, in der deutlich wird, wie Riechen, Tasten und Schmecken beim Essen und Trinken, aber auch in der körperlichen Liebe miteinander zusammenwirken.
Das Kind an der Mutterbrust und die Liebenden in der Umarmung und beim Kuß (wenn die Zunge nicht mehr spricht, sondern nur noch schmeckt, tastet und spürt): Da sind Hören und Sehen nicht mehr wichtig, da leben wir sozusagen animalisch. Deshalb könnte man diese drei Sinne auch animalische oder vitale Sinne nennen. Oft werden sie Nahsinne genannt, was für das Riechen nicht paßt; denn intensive Gerüche und Düfte können uns durch die Luft auch von weither erreichen:
Eduard Mörike (1804–1875): Er ist’s (1829)
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!
Wie hier unsere Augen und Ohren (die Konsonanten f und v klingen wie Atem und Luft), unsere Nase und unsere Sehnsüchte angesprochen werden, ist ein wunderbares, immer wieder neues Geschenk des Dichters Eduard Mörike an uns, wenn wir sein luftiges Gedicht lesen und hören. Solche Gedichte sprechen unsere Sinne, aber auch unsere Gefühle an.
Das Lesen und die Emotionen
11. Wer liest, fühlt mit
Am 12. September 2001 kaufte ich in der Bahnhofsbuchhandlung von Weilheim elf dort verfügbare deutschsprachige Tageszeitungen. Die Ereignisse vom 11.9.2001, 9/11, »Nine Eleven« hatten die ganze Welt bewegt und bei wohl allen Menschen intensive Gefühle ausgelöst: Schrecken, Mitgefühl und Mitleid, bei den Feinden der USA dagegen Genugtuung oder sogar Triumphgefühle. Ausgelöst wurden diese Emotionen durch die Fernsehbilder und dann auch durch Reportagen.
In den bisherigen Kapiteln ging es um die geistigen und sinnlichen Fähigkeiten, die wir beim Lesen, ohne es zu merken, immer üben und dadurch fördern. Jetzt soll es darum gehen, wie die Lektüre von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen unsere Gefühle bewegen kann. Bewegen heißt lateinisch »movere« (der »Motor« bewegt das Auto), »emovere« heißt u.a. erschüttern, Emotionen sind Gefühlsbewegungen.
Am 14.9., in meiner ersten Deutschstunde in Klasse 11e, verteilte ich einen Zettel mit den Schlagzeilen vom 12.9., nach Länge geordnet, mit der Aufgabe, die Aufmacher der drei in Bayern verkauften Boulevardzeitungen zu erraten:
1. Verheerender Terrorangriff erschüttert die Welt: Tausende Tote in New York und Washington
2. Barbarische Terrorangriffe gegen Nervenzentren der USA
3. Terror-Inferno: Die Welt fühlt mit Amerika
4. Terrorangriff auf das Herz Amerikas
5. Terror-Krieg gegen Amerika
6. Großer Gott, steh uns bei!
7. und 8. Angriff auf Amerika
9. Krieg gegen die USA
10. Krieg gegen USA
11. Das ist Krieg
Emotionen haben in unserem Leben eine zentrale Bedeutung. Und weil das so ist, spielen sie auch in den Medien eine große Rolle. Denn alles, was unsere Gefühle bewegt, fesselt auch unsere Aufmerksamkeit.
In dem von Bernad Batinic und Markus Appel herausgegebenen Springer-Lehrbuch Medienpsychologie (2008) sind 27
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