Wer liest, kommt weiter
Fenster. »So«, sagte ich, »im Krieg sieht alles so aus.«
Wieder war mitten in der Nacht der tobende Onkel Egon zu hören, er heulte, er schrie, und wieder lag er am andern Morgen im Bett. Man hatte ihm eine eisgefüllte Gummihaube auf den Kopf geschnallt, und der Onkel, obwohl man die Vorhänge gezogen hatte, trug eine Sonnenbrille mit runden Gläsern.
»Ist er verwundet?«, fragte ich leise.
Der Großvater nickte. Sein armer Sohn Egon, meinte er schließlich, komme mit dem Leben nicht zurecht.
In diesem Augenblick näherte sich eine lärmende Horde dem Haus. »Hallöchen!« rief Jocelyne, »ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich Reto und Daisy kurz erkläre, was ein Krieg ist.«
Sie stürmte das Treppenhaus hinauf; der Großvater verzog sich in den Obstgarten, ich folgte ihm.
Jocelyne ist heute eine bekannte Wirtschaftsanwältin, und ich weiß nicht, ob sie meinen Gruß auf der Straße erwidern würde. Mit Onkel Egon verband mich eine lebenslange Feindschaft. Als er starb, mußte meine Mutter seine Wohnung räumen. Alle Schränke und Schubladen waren mit kleinen Papiertüten vollgestopft, und so erfuhren wir, daß Onkel Egon im Alter Samen gesammelt hatte – Samen von Blumen aus aller Welt.
Onkel Egon begegnet uns in mehreren Anekdoten in Hürlimanns Erzählband Die Satellitenstadt (1992), der ursprünglich Zeitweh heißen sollte, was gut zu den heiter-melancholischen Geschichten gepaßt hätte. Vorbild für ihn war Leo Duft, der jüngere Bruder von Thomas Hürlimanns Mutter und von Dr. Johannes Duft, dem St. Galler Stiftsbibliothekar seit 1948, den wir in der Novelle Fräulein Stark (2001) näher kennenlernen.
Die Geschichte von Onkel Egon erzählt in fünf Akten – der Anekdotenerzähler Thomas Hürlimann ist wie sein Vorbild Kleist auch Dramatiker – und einem Epilog etwas über die Entstehung von Gewalt, von Kriegen und Feindschaften.
Zu Beginn blicken wir in einen friedlichen Garten, doch der Großvater spricht vom Krieg. Signalpfiffe erinnern den fünfjährigen Enkel an den Onkel im Speicher des Hauses, dann stellt er die verhängnisvolle Frage, was ein Krieg sei. (1. Akt)
Diese Frage ermuntert den Großvater zu einem gezielten Gewaltakt (derweil schnitt die Großmutter die Schnecken mit der Gartenschere entzwei): Er beginnt einen Krieg gegen den erwachsenen Sohn, der im Vergleich zu seinem älteren Bruder als Taugenichts gelten kann, und zerstört einen Teil seiner Modelleisenbahn. (2. Akt, vor allem Schauspiel)
Nachts Geschrei, am Morgen seltsame Stille, und die Großmutter pflegt das »Kriegsopfer«. (3. Akt, vor allem Hörspiel)
Ein paar Tage danach ahmt der Kleine den Großvater nach und setzt den Krieg gegen den Onkel fort. (4. Akt, vor allem dramatischer Dialog: aus Worten ergeben sich Handlungen; griechisch »drama« heißt Handlung)
In der Nacht wieder Geschrei, der Onkel ist verwundet, der Großvater fällt ein Urteil über ihn: Sein armer Sohn komme mit dem Leben nicht zurecht, Jocelyne setzt das Zerstörungswerk fort, die Schuldigen »verziehen« sich. (5. Akt: Katastrophe)
Im Epilog erfährt der aufmerksame Leser die Geschichte der nächsten Jahrzehnte in einem Bild. Der Onkel, der viel zu lang mit der Eisenbahn spielen wollte, sammelte später Blumensamen aus aller Welt. Wie diese kam auch sein Leben nie zur Entfaltung, zum Wachsen und Blühen. Erlebnisse wie die drei Angriffe auf seine Modelleisenbahn waren daran vermutlich mitschuldig.
Vor allem aber können wir an dieser Geschichte sehen, wie Gewalt sich ausbreitet: durch Nachahmung, durch Lieblosigkeit und Bosheit, manchmal auch aus Verlegenheit.
Als Leser denke ich bei solchen Geschichten an einen Vers in Guntram Vespers Gedicht Landmeer, in dem er drei Haltungen gegenüber dem Leben anderer benennt: Mitleid, Trauer und Empörung: Mitleid mit den Opfern (Gegenwart), Trauer über das geschehene Unglück (Vergangenheit) und Empörung angesichts des Unrechts, das man in Zukunft bekämpfen will.
Nun wäre es schlimm, wenn diese Gefühle die einzigen wären, die wir beim Lesen von Büchern und Zeitungen empfinden können. Zum Glück gibt es genug zu lesen, was ganz und gar positive Gefühle in uns weckt: Bewunderung, Dankbarkeit, Freude, Heiterkeit und Glück.
Das meinte auch Horaz, als er in seinem Poem Über die Dichtkunst den berühmten, meistens nur halb zitierten Satz schrieb:
Aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.
Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter
Weitere Kostenlose Bücher