Wer liest, kommt weiter
Seiten dem Thema »Medien und Emotionen« gewidmet. Darin werden die folgenden fünf Bereiche beschrieben, in denen die audiovisuellen Medien Emotionen hervorrufen:
a) »Stimmungsmanagement«; gemeint ist, daß wir im Fernsehprogramm »Entspannung und Abbau von Stress oder Aktivation und Aufregung« suchen (S. 157);
b) »Sensationssuche, Angstlust und,suspense’« (160);
c) »Prosoziales Verhalten und Empathie« (161), d.h. Verständnis für die Menschen, die uns gezeigt werden;
d) »Parasoziale Interaktion und parasoziale Bindung« (164); gemeint sind (bisweilen sehr intensive) Beziehungen, die man im Lauf der Zeit zu Fernsehmoderatoren, aber auch zu Figuren in den Daily Soaps aufbauen kann;
e) Pornographie (167–172).
Wenn wir uns nun fragen, ob die Literatur in diesen Bereichen mit den audiovisuellen Medien mithalten kann, so können wir sagen: Bei der Pornographie (vgl. Kap. 25) keinesfalls, in den anderen Bereichen aber durchaus – und sogar mit dem Vorteil, daß wir, wenn wir lesen, unsere Emotionen eher beschreiben und uns deshalb wohl auch besser an sie erinnern können.
Der Hauptunterschied ist jedoch, daß Emotionen, die durch bewegte Bilder hervorgerufen werden, durch einen »Tatort« oder ein Fußballspiel, unmittelbarer und intensiver wirken als das, was wir mit den Augen lesen, innerlich hören, gedanklich verstehen und dann mit dem inneren Auge imaginieren müssen, während wir die Handlung am Bildschirm ja unmittelbar sehen und oft sehr gespannt dem Geschehen zuschauen. Wenn dabei in meinem Kopf »kognitiv«, d.h. die Erkenntnis betreffend, weniger geschieht, nehme ich das in Kauf. Wenn ich gut unterhalten werde, bin ich zufrieden.
Andererseits bietet uns die Lektüre von Büchern und Zeitungen meistens beides: Wir üben dabei immer unsere »kognitiven« Fähigkeiten; und meistens kommt auch das Emotionale nicht zu kurz.
Unter dem Gesichtspunkt der Emotionalität könnte man die elf Schlagzeilen vom 12. September 2001 etwa so anordnen:
1. Krieg gegen USA
2. Krieg gegen die USA
3. und 4. Angriff auf Amerika
5. Terror-Krieg gegen Amerika
6. Verheerender Terrorangriff erschüttert die Welt: Tausende Tote in New York und Washington
7. Barbarische Terrorangriffe gegen Nervenzentren der USA
8. Terrorangriff auf das Herz Amerikas
9. Terror-Inferno: Die Welt fühlt mit Amerika
10. Das ist Krieg
11. Großer Gott, steh uns bei!
Welches war die Schlagzeile der Bildzeitung? »Natürlich« die mit dem Ausrufezeichen und dem Hilferuf. Oh, my God! war auch am 11.9. einer der häufigsten Ausrufe, die man noch heute in den Videos auf Youtube hören kann. Und die tz hatte als Aufmacher den Schreckenssatz Das ist Krieg. Da Boulevardzeitungen kaum Abonnenten haben, müssen sie ihr Publikum täglich neu erreichen. Daß dabei oft Emotionen angesprochen werden, ist verständlich.
Aber auch sonst gab es emotionale Vokabeln wie erschüttert (Berliner Zeitung), barbarisch (NZZ), das Herz Amerikas (Die Welt), Die Welt fühlt mit Amerika (Münchner Merkur). Auch Formulierungen wie Angriff auf Amerika (F.A.Z. und Tagesspiegel) und Terrorkrieg gegen Amerika (Süddeutsche) wirkten emotional allein durch den Ländernamen »Amerika«, der in den meisten Zeitungen längst durch das genauere und kühlere USA ersetzt ist, so in der taz (2.) und der Abendzeitung (1.), die deshalb die »kühlsten« Aufmacher hatten: Krieg gegen (die) USA.
Alle drei Boulevardzeitungen, auch die Abendzeitung, hatten auf der Seite 1 neben der übergroßen Schlagzeile fast nur Fotos, die Angst und Mitgefühl bewirkten. Fotos sind vielleicht noch wirkungsvoller als die Videos im Fernsehen und im Internet, weil sie durch Texte erklärt und kommentiert werden.
Noch eine Art von Emotionen sei erwähnt, die in allen aktuellen Medien eine Rolle spielt, im Fernsehen noch mehr als in der Presse: der Ärger und der Zorn. Beides wird oft provoziert, in Boulevardzeitungen natürlich mehr als in Abonnementzeitungen, aber auch hier sind Kommentare nicht selten provozierend, weil vieles Ärgerliche geschieht. Und wenn wir uns über Ungerechtigkeiten empören und uns vielleicht zum Widerstand entschließen, hat der Ärger auch etwas Positives.
Beim Lesen von Büchern ärgern wir uns zum Glück seltener, es sei denn wir lesen Sachbücher, die uns aufrütteln wollen. In literarischen Büchern werden eher andere Emotionen angesprochen. Das könnte man an vielen Beispielen zeigen.
Allein unter den mehr als 1600 Gedichten in der 1955 von Ludwig Reiners
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