Wer liest, kommt weiter
begründeten und 2005 von Albert von Schirnding erneuerten Anthologie Der ewige Brunnen finden sich zu allen Bereichen des Lebens bewegende Gedichte. Das gilt auch für viele der etwa 350 Gedichte in der schönen von Hans-Joachim Gelberg herausgebenen Anthologie Wo kommen die Worte her? Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene (2011).
Vor allem könnte man nahezu alle Romane nennen, die wir lesen, weil uns die Schicksale der Romanfiguren nahegehen, weil wir mit ihnen mitfühlen und mitleiden, uns mit ihnen freuen, wenn es gut ausgeht, und mit ihnen trauern, wenn nicht.
Hier seien nur drei neue Bücher über Menschenschicksale in unserer Zeit genannt:
In Walter Kappachers Land der roten Steine (2012) begegnen wir dem pensionierten Arzt Wessely, der in den Canyonlands von Utah einen Sinn für die letzten Lebensjahre sucht.
In Wald aus Glas (2012) schildert Hansjörg Schertenleib nebeneinander das Leben einer 73jährigen Rentnerin und einer 15 jährigen Türkin, die freier leben wollen als bisher.
Und Jens Sparschuh macht uns in seinem Roman Im Kasten (2012) mit einem Ordnungsfanatiker namens Hannes Felix bekannt, der alles andere ist als ein Hans im Glück.
Beispielhaft sei hier noch eine Erzählung zitiert, in der das Verhalten von fünf Menschen aus drei Generationen unsere Gefühle anspricht, vor allem wenn man die Geschichte laut liest. Sie spielt übrigens im Sommer 1956, zur Zeit des sog. Ungarnaufstands, Thomas Hürlimann war damals 5 Jahre alt.
Thomas Hürlimann: Onkel Egon (1992)
Seit Stunden fiel warmer Regen in den grünen Garten. Mein Großvater stand am Stubenfenster, sah auf die Kirschbäume hinaus und sagte plötzlich: »Alle großen Kriege haben im Sommer angefangen.«
Aus dem Estrich, wo Onkel Egon sein Studio hatte, war von Zeit zu Zeit ein Signalpfiff zu hören. Also würde Onkel Egon vor seinem Gleistisch knien, eine rote Mütze auf dem Kopf, die grüne Kelle in der Hand und seine Schnell- und Güterzüge durch jene Landschaft fahren lassen, von der er, zum großen Ärger des Großvaters, behauptete, sie vermöge sich, genau wie die Natur, mit den Jahreszeiten zu verwandeln. Im Winter überstreute er sie mit weißem Pulver; nun war es Sommer, und die runden, von Schlössern gekrönten Hügel zeigten ihre Bespannung, den grünen Filz.
»Großvater«, sagte ich, »was ist das – Krieg?«
Nach dem Abendessen verließ Onkel Egon das Haus, um im Adler ein Bier zu trinken und mit anderen Eisenbahnern, wie er sagte, »Erfahrungen auszutauschen«.
Draußen funkelte die Abendsonne durch die tropfenden Bäume und Blätter. Die Großmutter kauerte im Salatbeet und schnitt die Schnecken mit der Gartenschere entzwei.
»Muß dem Kleinen etwas erklären«, rief ihr der Großvater zu.
Wir stiegen ins Studio hinauf. Über Onkel Egons Landschaft schwamm die Dämmerung, die Bahnhöfe lagen im Schatten, die Lämpchen waren gelöscht, die Züge standen still. Ref 34
Plötzlich ein Knirschen. Der Großvater, zum Riesen geworden, stand mitten im Gelände, nun bückte er sich, packte die schwarze Dampflokomotive und warf sie aus dem Fenster. »So!« sagte er.
Wir stiegen hinab und traten vor das Haus. Die Räder mit den roten Speichen, die Pleuelstangen, der Kohletender – alles lag zerschmettert vor dem Eingang. »So«, sagte der Großvater, »im Krieg sieht alles so aus. Die Dinge sind kaputt, die Menschen verwundet.«
Nachts hörte ich Lärm, Gepolter, Schreie. Was war los? Am Morgen wurde ich später als üblich geweckt, es gab keine Ovomaltine, der Großvater war nicht im Haus. Lange strich ich von Zimmer zu Zimmer. Draußen das Gezwitscher der Vögel, das Elfuhrläuten der Kirche, ein Sommertag. Ein Sommertag? Ich erschrak. Hatte der Krieg angefangen? Die Großmutter saß an Onkel Egons Bett und versuchte, ihm Tee einzulöffeln.
Ein paar Tage danach kam Cousine Jocelyne zu Besuch. Sie meinte stolz, man werde ihr demnächst eine Zahnspange einsetzen, auch war sie zufällig dabeigewesen, als Reto Hux eine lebende Maus verspiesen hatte – »Gott, war das eklig!« stöhnte Jocelyne –, und natürlich stand sie auf der Liste für Daisy Enderlins Geburtstagsparty. »Und du, alter Knabe?«
Ich war ziemlich verlegen. Der Großvater und ich hatten die Kirschen gepflückt, mehr gab es nicht zu berichten.
»Weißt du, was das ist – ein Krieg?«
»Ja, aber gewiß doch«, log Jocelyne.
Ich rannte ins Studio hinauf, sie hinter mir her, dann zertrat ich ein Perrondach, nahm den Schlafwagen und warf ihn aus dem
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