Wer liest, kommt weiter
die aber kaum weniger intensiv ist als ein wirklicher Blick auf einen herbstlichen See und ein wirkliches Hören von schepperndem Metall.
Natürlich ist ein See mit Schwänen auch schön ohne Hölderlins Gedicht. Aber Kunst und Literatur öffnen unsere Augen für die Schönheit und erleichtern es uns, darüber zu sprechen.
Hier sei noch hinzugefügt, daß Martin Walser durch Friedrich Hölderlin zur Dichtung gekommen ist. In seinem Essay Hölderlin auf dem Dachboden schreibt er:
Man bekommt Namen geschenkt für eine Umgebung, die man ... auswendig zu kennen glaubt. Das aber bedeutet, daß Literatur eine neue Sicht auf die uns umgebende Welt ermöglicht.
Zuletzt noch der Beginn einer Episode aus Christoph Ransmayrs schon erwähntem Atlas eines ängstlichen Mannes:
Ich sah einen barfüßigen Mann in einer langen Schlange winterlich vermummter Menschen vor dem Reichstag in Berlin.
Der Erzähler beschreibt das Gesehene aus seiner Erinnerung, und wir sehen es beim Lesen neu vor dem inneren Auge. Nebenbei gesagt, sehen wir immer auch dann etwas vor uns, wenn wir Sprachbilder, Metaphern, hören oder lesen, hier das Bild der »Schlange«, es hätte aber auch ein »Häuflein« sein können.
Es gibt natürlich auch manche Bereiche, wo uns das Lesen weniger weiterbringt, zum Beispiel bei den drei Sinnen Riechen, Schmecken und Tasten. Warum ist das so? Ref 32
10. Wer liest, kann sogar die »vitalen« Sinne verfeinern
Am 19. März 2012 brachte die Neue Zürcher Zeitung eine Reportage über die Leipziger Buchmesse, die so beginnt:
Das erste starke Grün, das der Frühling in Leipzigs Auwald hervortreibt, ist jedes Jahr der Bärlauch. Vorerst haben die als Wildgemüse geschätzten Blätter nur einen milden Geschmack, und die Nase des Spaziergängers erhält allenfalls eine Ahnung von kommenden Düften. Das wird sich ändern. Im Blühen, Verblühen und Verwelken strömt der Bärlauch immer stärkere Aromen aus; in lauen Nächten scheint es, als bilde er Geruchsnester, die sich in die Leipziger Luft einlagern. Tritt man dann unverhofft in eine intensive Zone seines Duftes ein, öffnet dies Herz und Sinne.
Von den Wonnen des Auwalds erfuhr freilich nichts, wer sich in den vergangenen Tagen nach Leipzig begab, um den Frühling in den Hallen der Buchmesse zu begehen. Die Geruchsnester, welche dort Menschenmassen und mobile Garküchen bilden, sind von fragwürdiger Qualität. Aber eine Analogie drängt sich gleichwohl auf – eine des Klangs. Sich durch die Gänge treiben lassend, passiert man wechselnde Räume aus Stimmen: Gesprächsnester, Vortragsnester, Vorlesenester. Vom Zentrum der rund fünfzig Musikverlage wehen barocke Gitarrenklänge herüber, Bach und Scarlatti, und aus der »Lese-Insel Religion« erreicht die Mahnung »Werte bewusster leben« unser Ohr ...
Was Joachim Güntner uns unter dem Titel Lesenischen und Gesprächsnester so elegant und lebendig über diese Buchmesse erzählt, spricht alle Sinne an: Wir sehen mit ihm den Auwald, in dem wir noch nie gewesen sind, hören die Musik und das Stimmengewirr in den Messehallen und erinnern uns vielleicht an den Bärlauch-Geruch am Wehrenbach beim Botanischen Garten in Zürich.
Die Schilderung von Düften, die luftig und flüchtig sind, ist besonders schwierig, vor allem wenn der Leser sie noch nie gerochen hat. Um so mutiger war Patrick Süskind in seinem Roman Das Parfüm, und er wurde für diesen Mut auch belohnt.
Was den Geschmackssinn betrifft, so gibt es in der Literatur seit der Bibel immer wieder Beschreibungen von Gastmählern, die uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Bei gut geschriebenen Kochbüchern ist das nicht anders. Wir essen ja auch mit den Augen, weshalb gute Köchinnen und Köche auch auf das Arrangement und die Farbe der Speisen achten.
Ein Meister der Schilderung von Mahlzeiten und Gerüchen ist Günter Grass: seit dem ersten Drama Die bösen Köche (1956), aber auch in seinem Roman Der Butt (1977), in dem es von Anfang an ums Essen geht, und in der Blechtrommel (1959):
Eines Sonnabends nach Geschäftsschluß ... ließ Maria Rock und Bluse fallen, stand in armseligem aber sauberem Unterrock neben mir am Wohnzimmertisch und begann, mit Benzin einige Flecken aus dem Rock und der kunstseidenen Bluse zu reiben.
Wie kam es wohl, daß Maria, sobald sie die Oberkleider ablegte, sobald sich der Benzingeruch verflüchtigte, angenehm und naiv betörend nach Vanille roch? [...] Maria roch so. Ja, ich bin heute noch überzeugt, daß sie
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