Wer liest, kommt weiter
oder zugleich Erfreuliches und für das Leben Hilfreiches sagen.
Am Ende dieses Kapitels stehe eine Betrachtung, die Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) am Ende ihres Lebens über das Lesen geschrieben hat und deren Anfang oben schon in Frakturschrift zitiert wurde. Zum Glück gibt es Dichter wie sie, die schildern, was wir manchmal beim Lesen empfinden, ohne es in Worte fassen zu können.
Lesen ist ein großes Wunder.
Was hast du vor dir, wenn du ein Buch aufschlägst? Kleine, schwarze Zeichen auf hellem Grunde. Du siehst sie an, und sie verwandeln sich in klingende Worte, die erzählen, schildern, belehren. In die Tiefen der Wissenschaft führen sie dich ein, enthüllen dir die Geheimnisse der Menschenseele, erwecken dein Mitgefühl, deine Entrüstung, deinen Haß, deine Begeisterung. Sie vermögen dich in Märchenländer zu zaubern, Landschaften von wunderbarer Schönheit vor dir entstehen zu lassen, dich in die sengende Wüstenluft zu versetzen, in den starren Frost der Eisregionen. Das Werden und Vergehen der Welten vermögen sie dich kennen, die Unermeßlichkeit des Alls dich ahnen zu lassen. Sie können dir Glauben und Mut und Hoffnung rauben, verstehen deine gemeinsten Leidenschaften zu wecken, deine niedrigsten Triebe als die vor allen berechtigten zu feiern. Sie können auch die gegenteiligen, die höchsten und edelsten Gedanken und Gefühle in dir zur Entfaltung bringen, dich zu großen Taten begeistern, die feinsten, dir selbst kaum bewußten Regungen deiner Seele in kraftvolles Schwingen versetzen.
Was können sie nicht, die kleinen, schwarzen Zeichen, derer nur eine so geringe Anzahl ist, daß jeder einzelne von ihnen alle Augenblicke wieder erscheinen muß, wenn ein Ganzes gebildet werden soll, die sich selbst nie, sondern nur ihre Stellung zu der ihrer Kameraden verändern. Und hinter die Rätsel dieser Eigenschaft, die ihnen anhaftet, zu kommen, uns den Weg zu ihren Geheimnissen zu eröffnen, wird einem Kinde zugemutet, und ein Kind vermag’s – wenn das nicht ein Wunder ist ...
Kein Wunder ist es hingegen, daß Lesen uns oft Freude macht.
12. Wer liest, kann sich unterhalten und sich freuen
Wer in einen Zug steigt, in dem sechshundert Nonnen eine Wallfahrt nach Lourdes antreten, ist froh, ein Abteil für sich allein zu finden, auch wenn ihm darin ein komisches leises Pfeifen und mehr noch ein leichter kalter, säuerlicher Geruch auffällt.
– Wahrscheinlich singt die Glühbirne, dachte ich mir, Glühbirnen singen vor ihrem Ende bisweilen, darin den Schwänen ähnlich. Ich legte meinen Koffer ins Gepäcknetz und öffnete das Fenster, um die Ausdünstung des wohl schweißfüßigen Vorpassagiers auszulüften. Als aber der Zug abfuhr, ich mich hinsetzte, die Beine aus- und die Füße unter die gegenüberliegende Bank streckte, da wurden sie mit einem Griff umklammert und festgehalten. (Herbert Rosendorfer, Der Ruinenbaumeister, 1969)
Es muß der 7. oder 8. März gewesen sein. Ich schob Wache vor der Ortskommandantur. Auf einmal sah ich durch den Feldstecher auf der anderen Seite der Stadt, auf der Kelbergerstraße, Panzer, amerikanische Panzer, eins, zwei, drei, vier! Aufgeregt rannte ich in den Raum des Ortskommandeurs. Der saß beim Essen. Ich baute Männchen und schrie aus vollem Hals: »Herr Oberstleutnant, melde gehorsamst, vier feindliche Panzer auf der Kelbergerstraße!« Der kaute vornehm zu Ende, tupfte sich den Mund mit einer Serviette und sagte: »Leise, mein Junge, das ist doch kein Grund, so zu schreien.« Sprach’s, stand auf, ging hinaus zu seinem Wagen, fuhr davon und ward nie mehr gesehen. (Mario Adorf: Mein Kampf, in: Der Mäusetöter, 1992) Ref 35
Zur Feier des Bestehens ihres Abiturs durfte meine Schwester ihren ersten Freund mit nach Hause bringen. Und weil eine meiner indiskreten Tanten sofort fragte, welcher Arbeit dieser Freund denn nachgehe, wußten wir, was uns erwartete. Dieser Freund war ein Dichter. Wir lebten damals in einer Stadt, die den Dichtern ein gewisses Verständnis entgegenbrachte, was dazu führte, daß immer mehr Dichter in die Stadt kamen, um zu dichten, so daß man in bestimmten Kreisen unweigerlich auf einen Dichter stoßen mußte. Bis zu uns hatte sich allerdings noch keiner vorgewagt, aber in der Nachbarschaft wohnten schon zwei von ihnen, die wir gelegentlich beobachten konnten, wenn sie bei Feinkost-Dietrich einkauften. Einer war Pole und bevorzugte italienische Rotweine, der andere war aus Irland eingereist und den weißen Weinen aus
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