Wer liest, kommt weiter
geschichtlichen Bücher auch 2500 Jahre später noch unmittelbar ansprechend.
Deshalb gab es keine Epoche in der Geschichte Europas, in der sich nicht die größten Dichter, Künstler und Musiker, selbst Atheisten, mit der Bibel auseinandergesetzt haben. Auch heute wird die Bibel noch oft empfohlen.
Dennoch verlieren die christlichen Kirchen ständig an Gläubigen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sind es der Zölibat und die römische Hierarchie? Doch auch die reformierten Kirchen leeren sich. Sind es die Defizite, die Friedrich Wilhelm Graf in seinem Buch Kirchendämmerung (2011) nennt, u.a. der Moralismus und die Selbstherrlichkeit mancher Würdenträger?
Zwei ganz wichtige Gründe sind die gleichen, die auch für den Niedergang der Lesekultur verantwortlich sind:
Der erste Grund ist der eklatante Zeitmangel in einer von den visuellen Medien und vom Konsum bestimmten Gesellschaft. Da fehlt dann die Zeit für manches andere. Der zweite Grund hängt damit zusammen: der Übergang von einer zuhörenden zu einer zuschauenden Gesellschaft. Was soll das heißen?
Die drei monotheistischen Religionen sind Religionen des Wortes, und das Wort muß gehört werden. Das tägliche Morgen- und Abendgebet der Juden, das Schma Jisrael, beginnt so:
Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. (Deuteronomium 6,4f.)
Wenn der gläubige Jude diesen ersten Satz des Schma Jisrael betet, legt er die rechte Hand auf die Augen. Und wenn er stirbt, spricht er als letztes dieses Gebet: mit der Hand auf den Augen, damit er nicht durch das Sehen vom Hören abgelenkt wird.
Im Koran kommt das Wort »hören« nur selten vor. Aber »Koran« heißt nichts anderes als »Vortrag, Rezitation, Lesung«, so Hartmut Bobzin in seinem Koranlesebuch (2008).
Und im Evangelium heißt es mehrmals: Wer Ohren hat zu hören, der höre! (Mk 4,9) Das ergänzt Paulus im Römerbrief (10,17) so: Der Glaube kommt vom Hören. Das heißt, daß man den Glauben, noch mehr als die Klugheit, von anderen vermittelt bekommt: durch Hören, aber auch durch Lesen, und im Vertrauen auf die Glaubwürdigkeit des Sprechenden. Griechisch »pistis« und lateinisch »fides« bedeuten Glaube und Vertrauen. Der Glaube ist also kein Verdienst, sondern Geschenk. Was aber ist, wenn man wie der »ungläubige« Thomas nur glauben mag, was man sieht? Warum soll man sich auf Gehörtes verlassen, wenn es exakte Wissenschaften gibt und unendlich viele mehr oder weniger objektive Bilder?
Was immer die genauen Gründe für den Glaubensschwund sind, es ist im wohlverstandenen Interesse der Allgemeinheit, daß die Religion wieder attraktiver wird. Der ZEIT-Redakteur Jan Roß sagt das in der Einleitung zu seinem Buch Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird (2012) so:
Nicht für Gott, für den Menschen ist die Religion da ... Die gottlose Gesellschaft ist bedroht von Unmenschlichkeit.
Norbert Bolz betont in seinem Buch Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikatlischen (2008):
Man muss vor der europäischen Kultur nicht die Knie beugen, aber man sollte ihre großen alten Bücher lesen, die uns die religiöse Erziehung und Tradition ersetzen.
Und Martin Walser sagte am 20. Mai 2012 in Radio DRS 2:
Wir glauben mehr, als wir wissen. Der Glaube ist auch weit über das Religiöse hinaus eine Grundbefindlichkeit der Menschen. Wir sind viel mehr abhängig von dem, was wir glauben, als von dem, was wir wissen. ... Mir ist die Genesis wichtiger als der Urknall-was man da glaubt, wissen zu können.
Solche Bekenntnisse sind nur scheinbar erstaunlich. Professoren wie Jürgen Habermas, Dichter und Künstler merken dank ihrer Sensibilität besser als wir, wenn etwas Wichtiges verloren zu gehen droht. Auch Romane wie Salvatore (2008) von Arnold Stadler oder Muttersohn (2011) von Martin Walser sind, wie mir scheint, eine Antwort auf die Krise der Religion.
Imre Kertész schließlich schrieb in einer Notiz in seinem Galeerentagebuch (1993):
Ob es Gott gibt oder nicht, ist keine Frage. Der Mensch darf auf jeden Fall nur in der Weise leben, als gäbe es ihn.
Was haben nun die Religionen an Orientierung zu bieten? Nach den vier Kardinaltugenden sollen jetzt Glaube, Hoffnung und Liebe im Mittelpunkt stehen, die »göttliche Tugenden« genannt werden, weil sie als Geschenk und Gnade angesehen werden. Ref 59
Allen drei monotheistischen Religionen ist
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