Wer liest, kommt weiter
wohlklingender Vers: Man muß das Gúte tún, damit es in der Welt sei. Das sind sechs Jamben, ein Alexandriner wie der berühmte Vers des Barockdichters Gryphius : Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Diesen Aphorismus kannte vermutlich Erich Kästner, als er nach dem Krieg Epigramme schrieb. Sie erschienen 1948 und 1950 unter dem Titel Kurz und bündig. Darin findet sich eines der kürzesten Gedichte unserer Literatur:
Moral
Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.
So ist es: Nichts, was auf der Welt gut ist und die Menschen weiterbringt – Kunst, Musik, ein Sportverein für Jugendliche, ein Ausflug mit Freunden, ein Krankenbesuch, ein versöhnliches Gespräch nach einem Streit –, nichts entsteht von allein.
Nebenbei gesagt, war dieses Epigramm im Internet am 10.8. 2012 auf nicht weniger als 738 000 Seiten zu finden, allerdings nur 16 400mal mit der Überschrift und bei den ersten Treffern viel öfter ungenau als richtig zitiert. Einmal richtig würde reichen. Denn wer sich beim Suchen im Internet verirrt, kann manches andere nicht tun, was er in derselben Zeit tun könnte.
Vor allem kann er nichts wirklich Gutes tun, zu dessen Erkenntnis wir, so Aristoteles, Vernunft und Sprache haben:
Dies ist nämlich im Gegensatz zu den andern Lebewesen dem Menschen eigentümlich, daß er allein die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten und so weiter besitzt. (Politik, 1253 a)
Zuletzt die Schlußepisode aus dem Roman Das Haus der dunklen Krüge (1951/2002) von Gertrud Fussenegger (1912–2009). Balthasar Bourdanin hat als 40 jähriger die 16jährige Marie geheiratet, die ihm vier Kinder »geschenkt«, 14 Jahre mit ihm ausgehalten und jetzt eine schwere Krankheit überstanden hat:
Der Mann schaute sie an. ... Er dachte: Hab’ ich ihr denn je gesagt, daß ich sie liebe? Marie. Marie. Du bist die Beste, Wahrste. ... Das wollte er sagen. ... Aber es war zuviel, er vermochte es nicht. Wieder nahm er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und streifte ihr die Haube zurück. Da fiel sein Blick auf ihren Scheitel. Er stutzte, es zuckte in seinem Blick, dann sagte er: »Du hast ja auch schon graue Haare?« Sie erschrak, wich zurück.... Dann aber bezwang sie sich... und sagte lächelnd: »Hast du das noch nicht gewußt, Balthasar? Langsam werden wir beide alte Leute.«
Nur in Romanen und Erzählungen können wir Gedanken »lesen« und bedenken, wie die Gestalten damit umgehen, was sie aussprechen und was nicht, wenn sie es nie geübt haben. Und vielleicht können auch wir für uns selbst dabei etwas lernen? Ref 61
21. Mitmenschlichkeit, Freundschaft, Liebe oder: Wer liest, kann lieben lernen
Warum haben wir in der Schule und später auch meine Schüler so gern Die drei dunklen Könige und Schischyphusch von Wolfgang Borchert, Der Brötchenclou und Jenö war mein Freund von Wolfdietrich Schnurre, Die Wölfe kommen zurück von Hans Bender, Die Nacht im Hotel und die Geschichten aus So zärtlich war Suleyken von Siegfried Lenz gehört und gelesen? Weil sie so unmittelbar menschlich sind und die Menschen in diesen Geschichten so mitmenschlich miteinander umgehen.
In der Kurzgeschichte Die Nacht im Hotel (1949) muß Herr Schwamm ein Hotelzimmer mit einem Behinderten teilen und erzählt im Dunkeln von seinem Sohn, der auf dem Schulweg an einer Schranke immer vergeblich einem Zug zuwinkt. Und wenn er nach Hause kommt, ist er verstört und benommen, und manchmal heult er auch. Deshalb will Schwamm mit diesem Zug fahren und unerkannt zurückwinken. Der andere haßt Kinder und findet diesen Plan einen glatten Betrug, was Schwamm empört. Am Morgen aber ist Schwamm allein und hat verschlafen.
Am Nachmittag [...] kam er niedergeschlagen und enttäuscht zu Hause an. Sein Junge öffnete ihm die Tür, glücklich, außer sich vor Freude. Er warf sich ihm entgegen und hämmerte mit den Fäusten gegen seinen Schenkel und rief: »Einer hat gewinkt, einer hat ganz lange gewinkt.«
»Mit einer Krücke?« fragte Schwamm.
»Ja, mit einem Stock. Und zuletzt hat er sein Taschentuch an den Stock gebunden und es so lange aus dem Fenster gehalten, bis ich es nicht mehr sehen konnte.«
In Thomas Hürlimanns Geschichte von Onkel Egon führt die Gewalttätigkeit eines Vaters zu weiteren Gewalttaten. Hier aber bewirkt die liebevolle Idee des Vaters eine Sinneswandlung bei dem Mann mit der Krücke, der den Vater am Morgen schlafen läßt, um selber dem Jungen eine große Freude zu machen. Ref
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