Wer liest, kommt weiter
panem et circenses. Genügend zu essen haben die meisten Amerikaner ja. Da fehlen ihnen nur noch die Shows in den visuellen Medien. Aber dieser Vergleich erklärt nicht die Faszination des Visuellen.
Daß wir alle gern etwas sehen und schauen wollen, ist nämlich ganz natürlich, weil fast alles, was wir sehen, mehr oder weniger sehenswert und vieles zugleich schön ist.
Davon singt der Türmer Lynkeus (der Luchsäugige, von griechisch »lynx«) im 5. Akt von Goethes Faust II:
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick’ in die Ferne,
Ich seh’ in der Näh’
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh’ ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir’s gefallen,
Gefall’ ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei wie es wolle,
Es war doch so schön!
Daß das Universum eine Zier(de) ist, geordnete Schönheit, wußten schon die Griechen und nannten es »Kosmos« (zu »kosmeĩn« = schmücken, zieren, vgl. »Kosmetik«).
Ein begeisterter Leser Goethes war Gottfried Keller, der zunächst Maler war. Sein berühmtestes Gedicht ist das Abendlied, das Thomas Hürlimann in seiner Künstlernovelle Dämmerschoppen (1990), die man mit Mörikes Novelle Mozart, auf der Reise nach Prag vergleichen könnte, in den Mittelpunkt stellt:
Am Vorabend seines siebzigsten Geburtstags saß hoch über dem Vierwaldstätter See der Dichter Gottfried Keller auf einer Hotelterrasse, trank eine Flasche Gumpoldskirchner und sah in die Dämmerung hinaus.
Der Dichter trinkt und schaut in die Dämmerung der Natur, aber auch seines Lebens. Hier die erste und vierte Strophe seines Gedichts über das Schauen:
Gottfried Keller (1819–1890): Abendlied (1879)
Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!
Doch das Schauen kann auch gefährlich sein. Die Äpfel im Paradies waren lieblich anzusehen, und Eva ließ sich verführen. David sah vom Dach aus eine Frau sich waschen; und die Frau, war von sehr schöner Gestalt, und er ließ Bathseba zu sich holen; sie wird schwanger, und ihr Ehemann Urija wird beseitigt.
Wohl kaum jemand hat die Verlockungen des Sehens so eindrücklich beschrieben wie Augustinus in seinen Bekenntnissen. Im 10. Buch schreibt er über die Versuchungen der verschiedenen Sinne, im 34. Kapitel über die Lust der Augen, die »voluptas oculorum«, im 35. Kapitel dann über die Neugier der Augen, die »curiositas«, die auch Schreckliches sehen will: Ref 77
Was liegt wohl für ein Vergnügen darin, an einem zerfleischten Leichname Dinge zu sehen, vor denen man sich sonst graut? Und doch laufen alle hin, wenn irgendwo einer liegt, um sich zu entsetzen ... Diese krankhafte Gier ist der Grund, daß auf den Bühnen so viele wunderliche Stücke aufgeführt werden. ...
Einen Hund, der im Zirkus einem Hasen nachläuft, sehe ich mir nicht mehr an; gehe ich aber zufällig über die Felder, so bringt mich eine solche Jagd vielleicht von einem wichtigen Gedanken ab, da die Jagd meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht ... (Übersetzung: Alfred Hofmann, 1914)
Diese Überlegungen erinnern an Senecas 7. Brief an Lucilius. Da geht es um eine Mittagsvorstellung im Circus Maximus, bei der die Massen zuschauen, wie sich Männer gegenseitig umbringen: Morgens wirft man den Löwen und Bären Menschen vor, mittags den Zuschauern. Seneca versucht sich die Abgestumpftheit des Publikums so zu erklären: Nichts ist einem guten Charakter so schädlich wie das müßige Dasitzen bei irgendeiner Vorführung. Da schleichen sich nämlich, mit Hilfe des Vergnügens, alle Laster leicht ein.
Die visuellen Medien sind also eine Antwort auf unsere angeborene Schaulust. Auch der Theaterdirektor im Vorspiel auf dem Theater, in Goethes Faust weist den Dichter darauf hin:
Besonders aber laßt genug geschehn!
Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn.
Wird vieles vor den Augen abgesponnen,
So daß die Menge staunend gaffen kann,
Da habt Ihr in der Breite gleich gewonnen,
Ihr seid ein vielgeliebter Mann.
Immerhin mußten sich die alten Römer und die Theaterbesucher der Goethezeit auf den Weg machen und etwas dafür bezahlen, wenn sie ein Schauspiel sehen wollten.
Die visuellen Medien unserer Zeit
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