Wer liest, kommt weiter
Fotos und Filmen, die ebenfalls kommerziell genutzt werden.
Wenn die Menschen in früheren Zeiten nach Hause kamen, war da wenig zu sehen und wenig zu hören außer den Mitbewohnern, den Eltern, Geschwistern, Kindern usw. Alles war an seinem Platz, wenig bewegte sich.
Auch im Freien gab es weniger zu sehen: die Natur, Mitmenschen, manche Tiere, die von Menschen gebauten Häuser und Straßen, einige Fahrzeuge. Sensationelles gab es selten zu sehen. Das wäre auch heute noch so. Auch heute hat kaum jemand von uns, außer natürlich den Medizinern und Pflegern, mehr als einen oder zwei Menschen sterben sehen, zum Glück hat auch fast niemand ein Verbrechen »live« miterlebt.
Und wenn man vor 60 Jahren Männer gefragt hätte, wie viele Frauen sie schon nackt gesehen haben, dann hätten vermutlich viele gesagt: keine, oder: nur eine.
Das war sozusagen der Normalzustand, das Natürliche und Naturgemäße, das, wie oben erwähnt, für Seneca, Marc Aurel und andere Stoiker der Schlüssel zum Lebensglück ist.
Davon sind wir heute meilenweit, ja sternenweit entfernt. Denn die Angebote der visuellen Medien sind unermeßlich und außerordentlich faszinierend.
Menge, Faszination und Verfügbarkeit der Angebote
Am 23. April 1954 gab es im Deutschen Fernsehen dies zu sehen:
16.30:
Kinderstunde »Wer spielt mit?« Latschi und Lumpi
17.05:
Das Frankfurter Nachmittagsstudio.
Unterhaltendes und Aktuelles.
17.45–18.00:
Dia mit Musik [dann zwei Stunden Pause!]
20.00:
Abendschau. Anschließend Wetterkarte
20.15:
Bitte, in 10 Minuten zu Tisch. Kochkunst
für eilige Feinschmecker mit Clemens Wilmenrod
20.30:
Die Auster und die Perle. Fernseh-Spiel von W Saroyan
21.20 (bis 22.00):
Schaufenster der deutschen Wirtschaft
[zur Deutschen Industriemesse in Hannover]
Insgesamt waren das keine vier Stunden Fernsehen. Neun Jahre später, 1963, begann das ARD-Fernsehen um 16 Uhr, das ZDF um 18.30 Uhr, um 23 Uhr war Sendeschluß, dann kamen die dritten Programme und 1984 die privaten Fernsehsender, die Anfang der 90er Jahre als erste die sog. »Nachtlücke« schlossen. Heute gibt es rund um die Uhr auf 100 oder mehr Sendern, per Kabel oder im Internet, 200mal mehr Fernsehen als 1963.
Das Mehr an Programmen kann den vermehrten Konsum aber nicht erklären. Es gibt auch immer mehr Bücher, trotzdem wird immer weniger gelesen. Bei den visuellen Medien kommt neben der fundamentalen Faszination der bewegten Bilder ihr Inhalt hinzu. Hier gilt nicht selten: Je flacher und niedriger das Niveau, desto höher die Sehbeteiligung. Die 90er Jahre begannen mit »Tutti frutti« (Striptease als »ideale« Antwort auf die Schaulust der Männer), dann kamen die Daily Soaps (»Dallas« und »Denver« gab es in den 80er Jahren nur einmal pro Woche). 1999 sagte mir eine Abiturientin: Was ich in meinem Leben am meisten bedaure: daß ich die ersten 300 Folgen von »Verbotene Liebe« nicht gesehen habe! (Inzwischen sind es mehr als 4000).
Dann gab es die täglichen Talkshows mit Arabella Kiesbauer und Bärbel Schäfer, deren erste Sendung im September 1995 »Ich stehe auf One-Night-Stands« hieß, das Reality-TV »Notruf« (1992 bis 2006) und ab Beginn des neuen Jahrtausends die exhibitionistische Dauersendung »Big Brother«.
Warum ist dieses »Sendeformat« seither in fast 70 Ländern so erfolgreich, daß die Firma Endemol zum zweitgrößten Fernsehproduzenten der Welt wurde? Weil »Big Brother« wie später das »Dschungelcamp« die schreckliche Vision aus Orwells Roman 1984 zu einem Geschäft verdreht, in extremer Form unsere Neugier anspricht und uns zu Voyeuren macht.
Etwa gleichzeitig begann der Siegeszug des Internets, das unsere Sehgewohnheiten auf den Kopf stellte. Im Fernsehen ist alles inhaltlich und zeitlich »programmiert«. »Pro-gramm« heißt griechisch »Vor-schrift«. Wir können zwar wählen, aber nur im Rahmen dieser Programme. Im Internet aber bestimmen meistens wir, was wir uns ansehen.
Vor allem ist das Angebot im Internet millionenfach größer als im Fernsehen. Und es gibt alles, was wir wollen: sehr viel Informationen in Text und Bild, Millionen Blogs mit Ratschlägen für alle Lebensfragen und Hundertausende von digitalisierten Büchern. Wie weit man die im Internet lesen kann und liest, wird bei der dritten Frage zu überlegen sein.
Sicher ist, daß andere Angebote im Internet viel interessanter sind als schwer lesbare
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