Wer liest, kommt weiter
situationsgerechtes Handeln ist erforderlich.
Die bewegten Fernsehbilder bedeuten für unser Leben nichts dergleichen, doch wir schauen auf sie fast wie auf Wirkliches. So wie Augustinus dem Hund nachblickte, der den Hasen verfolgte, so schauen wir alle gebannt auf die Bewegungen auf den Bildschirmen: Bewegungen von Menschen, Fahrzeugen, beim Sport, bei Katastrophen, bei Verfolgungsjagden usw.
Diese Bewegungen werden noch künstlich verstärkt: durch Bewegungen der Kameras und durch Schnitte. Je jünger das Publikum, desto schneller wird geschnitten, desto kürzer die Einstellungen. Das gilt bei den Zeichentrickfilmen mit ihren Verfolgungsjagden wie bei Tom und Jerry, und noch mehr bei den Musik-Videos, der Hauptattraktion der Fernsehkanäle MTV und Viva. In Bad Romance von Lady Gaga gibt es in fünf Minuten etwa 200 Schnitte. Da kann man kaum wegsehen und starrt mit nahezu unbewegtem Blick auf den Bildschirm.
Auch sehen wir eigentlich gar nicht selbst, sondern nur das, was die Kamera für uns »vorsieht«. Diese Passivität widerspricht dem »normalen« Sehen, das aktiver und freier ist als das Hören, Riechen, Schmecken und Spüren, aber sie ist bequem.
Zur Faszination der bewegten Bilder kommt ihr Realitätsanspruch hinzu. Wir wissen zwar, daß man alles von verschiedenen Seiten aus zeigen kann und viele Ereignisse, zum Beispiel Demonstrationen, sich verändern, sobald sie gefilmt werden. Trotzdem sind seit 50 Jahren fast alle davon überzeugt, daß das Fernsehen das bei weitem objektivste Medium sei. Denn wir sehen doch, was passiert! In Wahrheit wird es uns gezeigt. Ref 79
Die Spielekonsole, der Computer und das Handy sind sogar noch faszinierender, weil sie uns noch mehr Möglichkeiten bieten. Vor allem sind wir jetzt – dank Interaktivität – nicht mehr passive, sondern aktive Zuschauer und aktive Mitspieler.
So erklärt sich der Erfolg der Spielekonsolen seit den frühen 70er Jahren und der ersten PCs wie des Commodore C 64, des Atari usw. zu Beginn der 80er Jahre mit damals noch ganz einfachen Spielen, die jedoch sofort sehr viele Jungen faszinierten.
Dann das Internet, dessen Siegeszug mit den ersten Webbrowsern begann, dem Netscape Navigator 1994 und dem Internet-Explorer 1995, mit denen wir immer schneller auf die atemberaubende Fülle des Angebots zugreifen konnten.
Schließlich das Handy, das bei weitem erfolgreichste Gerät aller Zeiten. Zu Beginn, also Mitte der 90er Jahre, war das Handy ein tragbares Telefon. Heute ist es zwar noch immer ein Telefon, ein Wecker, ein Radio und MP3-Player zum Hören. Vor allem aber ist es ein visuelles Medium geworden, ein magisches Schaufenster, zu dem der Name iPhone perfekt paßt, wenn man ihn als »Eye-Phone«, als »Augen-Ruf« versteht.
Und tatsächlich wird inzwischen viel seltener telefoniert als früher, aus Kostengründen, aber auch weil E-Mails und SMS praktischer sind oder scheinen, was Sherry Turkle in ihrem Buch Verloren unter 100 Freunden (2012) in einem Kapitel mit dem Titel »Telefonieren – nein danke!« ausführlich darstellt.
Als visuelles Medium ist das Handy heute Foto- und Videokamera, Fotoalbum und Video-Player; Spielekonsole; Fernseher; Mini-Computer mit Organisationsfunktionen; Webbrowser mit Zugang zum Internet, unterstützt von immer mehr Apps; Sender und Empfänger von Twitter, SMS, E-Mails, von Fotos und Videoclips; Ortungs- und Navigationsgerät; schließlich auch Geldbörse und digitaler Ausweis. Das alles findet sich in einem wunderschönen, leicht in der Hand liegenden Gerät und ist mit den Fingern zauberhaft leicht zu erreichen.
Kein Wunder, daß niemand auf sein Handy verzichten mag und manche regelrecht handysüchtig sind. Ein erster Grund dafür sind die verführerischen Angebote.
26. Die Angebote der visuellen Medien
Von den fünf Sinnen des Menschen – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – werden in unserer Zeit drei wenig gefordert und zwei maßlos überfordert. Es könnte sogar sein, daß wir weniger zu schmecken und zu tasten und, wenn wir nicht an einer Autostraße oder in einem Raucherhaushalt leben, auch weniger zu riechen haben als unsere Vorfahren. Aber das Hörbare hat sich millionenfach und das Sichtbare milliardenfach vermehrt. Genauer gesagt: Beides wurde durch den technischen Fortschritt und zudem künstlich vermehrt: das eine durch Lärm und durch Musikaufnahmen, mit denen 100 Jahre lang gute Geschäfte gemacht wurden, das andere durch eine unendliche und unermeßliche Flut von
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