Wer Mit Schuld Beladen Ist
geöffnet hatte. Danach wurden Sie bis Montag, siebzehn Uhr, nicht mehr gesehen, als Officer Durkee Sie aufstöberte, wiederum im Supermarkt.«
»Meine Frau ist nicht tot«, wiederholte der Chief zum hundertsten Mal.
»Wir wissen, wo Sie nicht waren. Sie waren nicht bei Ihrer Mutter. Dem Nachbarn von gegenüber fiel auf, dass die Einfahrt leer war, als er nach den Nachrichten um dreiundzwanzig Uhr seinen Hund ausführte.« Der Chief funkelte sie wütend an. »Ja, ich habe Ihren Entwhistle hingeschickt, um die Fakten zu klären«, bestätigte sie. »Komisch, dass Sie und Ihr Deputy Chief Ihnen kein wasserdichtes Alibi besorgt haben. Oder vielleicht auch nicht. Da Sie beide ja so« – sie beugte sich vor, die Hände flach auf dem Tisch – » intime Freunde sind.«
Der Gesichtsausdruck des Chiefs flößte Mark Angst ein. Einen Moment wirkte er, als würde er gleich ein Tischbein abbrechen und Jensen damit zu Tode prügeln. Zum ersten Mal spürte Mark, wenn auch nur einen winzigen Augenblick, wie sein Glaube wankte. Was, wenn … War es möglich, dass …?
»Außerdem hat der Nachbar ausgesagt, dass die Einfahrt Ihrer Mutter noch immer leer und der Schnee unberührt war, als er am Montagmorgen vor der Arbeit seinen Hund ausführte.«
»Meine Frau ist nicht tot«, knirschte der Chief.
»Wussten Sie, dass Ihre Mutter für Sie gelogen hat?«
Sein Kopf ruckte hoch. Mark fuhr zusammen. Margy Van Alstyne war zu seiner Verteidigung zornig ins Revier gestürmt und hatte die Freilassung ihres Sohnes gefordert. Sobald Jensen begann, nach Informationen zu bohren, hatte sie geschworen, dass der Chief den ganzen Sonntag und auch am Montag bei ihr zu Hause gewesen war. Jensen hatte gelächelt wie eine Frau, die zu Weihnachten einen Nerz bekommt, und ihr gedankt, ehe sie ihr voller Bedauern verwehrt hatte, den Chief zu sehen. Mrs. Van Alstyne hatte keine Zeit mit Wutausbrüchen verschwendet, sondern war mit Vollgas davongeschossen. Entweder zu einem Anwalt oder einem Waffengeschäft, vermutete Mark.
»Um Himmels willen«, sagte der Chief. »Holen Sie endlich Emil Dvorak ans Telefon und fragen Sie ihn, ob sich im Obduktionsbericht der Frau Fingerabdrücke finden.«
»Laut der Sekretärin der Pathologie ist Dr. Dvorak heute in Albany bei seinem Neuropsychiater. Soweit ich verstanden habe, leidet er an einer Kopfverletzung, die regelmäßig untersucht werden muss.« Jensen rieb sich den Haaransatz an der Stelle, an der die Stirn des Rechtsmediziners von einer Narbe geteilt wurde. »Und um ehrlich zu sein, ich bin ein wenig misstrauisch, was die Aussage eines Rechtsmediziners betrifft, der nicht nur ein persönlicher Freund von Ihnen ist, sondern auch an einer Hirnverletzung leidet.«
»Scheren Sie sich zum Teufel.« Der Chief stützte den Ellbogen auf den Tisch und presste die Faust an den Mund. »Meine Frau«, sagte er, »ist nicht tot. Um Himmels willen, Sie können doch jemanden direkt zum Beerdigungsinstitut schicken und ihn dort Abdrücke nehmen lassen.«
Tatsächlich hatte Jensen Sergeant Morin von der Spurensicherung bereits angewiesen, dorthin zu fahren, sobald er mit dem Haus der Keane fertig war. Die Ermittlerin des BCI mochte den Versicherungen des Chiefs keinen Glauben schenken, doch sie war nicht dumm. Mark wartete, dass sie es dem Chief mitteilte, doch sie belauerte ihn nur mit der professionellen Trauermiene eines Bestattungsunternehmers.
»Russ«, sagte sie, »Sie müssen mir helfen. Vielleicht waren Sie ja nicht derjenige, der Ihre Frau getötet hat. Vielleicht war es einer ihrer Liebhaber. Nach allem, was ich gehört habe, klingt es, als hätte sie es genossen, herumzuhuren und …«
Der Chief sprang so rasch auf, dass Mark, der ihn durch den Zwei-Wege-Spiegel beobachtete, unfreiwillig zurückwich. Jensen, das Kinn vorgereckt, den Mund zu einem wissenden Lächeln verzogen, rührte sich nicht.
»Du Miststück«, knurrte der Chief. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Mark konnte sehen, wie die Ader an seinem Hals pochte. »Wenn wir hier fertig sind, werde ich …«
Die Worte des Chiefs gingen in plötzlichem Lärm aus dem Korridor unter. Mark war dankbar. Er wollte diese Drohung nicht hören. Er wollte dieses Gefühl nicht, diese Frage: Hätte er es tun können?, die wie ein Gift durch sein Nervensystem rann.
Es klang, als käme es aus der Einsatzzentrale oder Harlenes Funkzentrale; eine Kakophonie zorniger Stimmen, männlich und weiblich, und Harlene, die nach Lyle rief, und das Poltern rennender
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