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Wer Mit Schuld Beladen Ist

Wer Mit Schuld Beladen Ist

Titel: Wer Mit Schuld Beladen Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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meinen Marschbefehl bekam. Falls jemand von der Rekrutierungsbehörde je meine Akten kontrolliert hat, wird er wohl angenommen haben, dass Mr. McNeil geistig abwesend war und meine Unterlagen verlegt hat.«
    »Der Einberufungsbescheid hat deine Mom zur Aktivistin gemacht. Du hast ihr ganzes Leben verändert.«
    »Das ist einer der Gründe, warum ich noch nie jemandem davon erzählt habe. Wer will schon wissen, dass die Grundlage der eigenen Existenz auf einer Lüge basiert?«
    Sie zeichnete mit dem Daumen den Umriss seines Gesichts nach. »Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast.«
    Er horchte in sich hinein.
    Ihm war … leichter zumute.
    Und warum auch nicht? Jetzt half sie ihm ja, das Geheimnis zu tragen.

    Das Feuer war niedergebrannt. Keine Worte mehr. Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, streichelte ihr Haar, ihre Wangenknochen, die Linie ihres Kiefers. Wäre er noch jung, würde er vielleicht glauben, nie ihre Haut zu vergessen oder ihr Lächeln oder ihre Kraft. Doch er hatte gelernt, dass der Verstand nicht immer hielt, was das Herz verlangte. Erinnert euch, befahl er seinen Händen. Erinnert euch daran.

    Irgendwann wachte er auf. Die Glut im Ofen war nur noch ein orangefarbener Fleck. Er stützte sich auf einen Ellbogen, behutsam, um Clare nicht zu stören, und sah aus dem Fenster. Es schneite nicht mehr. Die Sterne funkelten so feurig, wie sie es nur kurz vor der Dämmerung tun. Er wusste, dass er gehen sollte, doch dann schnarchte Clare ganz leise und kuschelte sich enger an ihn. Er zog die verknitterte Wolldecke vom Fußende hoch und deckte sie beide fest zu. Lange Zeit lag er wach und betrachtete ihren Schlaf.

    Als er zum zweiten Mal erwachte, strömte gleißendes Sonnenlicht durch die Fenster. Er lag allein unter der Wolldecke. In der Hütte war es wieder warm. Er setzte sich auf und griff nach seiner Brille auf dem Couchtisch. Als Erstes sah er den mit Scheiten befüllten Holzofen, der Hitzewellen abstrahlte. Als Zweites erblickte er die Nachricht auf dem Couchtisch. Liebster Russ, las er, es tut mir leid, aber ich kann dir nicht noch einmal Lebewohl sagen. Ich nehme die Schneeschuhe und etwas zu essen mit und gehe wie Thoreau in die Wälder, um allein zu sein. Fast hätte er gelächelt. Wer zitierte in einem Abschiedsbrief schon Thoreau. »Nur du, Clare«, sagte er in den stillen Raum. »Nur du.«
    Er warf die Nachricht in den Holzofen.
    Dann brach er auf, um den Rest seines Lebens ohne sie zu beginnen.

34
    I nvestigator Jensen kehrte in den Vernehmungsraum zurück. »Seine Story deckt sich mit Ihrer«, sagte sie.
    »Das liegt daran, dass wir beide die Wahrheit sagen«, erwiderte Clare.
    Jensen blickte sie an, als hätte sie ihr soeben die Brooklyn Bridge zum Kauf angeboten. »Reverend Fergusson, im Jurastudium gibt es eine stehende Redewendung. ›Die meisten Verbrechen werden weder von Bischöfen noch von Priestern beobachtet.‹ Sie erklärt den Geschworenen, warum ein Ankläger auf die Aussage eines Drecksacks vertraut, dessen Vorstrafenregister ebenso lang ist wie das des Angeklagten. Doch ich glaube, diese Redewendung hat noch eine Kehrseite. Wie kann es ein Verbrechen sein, wenn ein Bischof oder ein Priester Zeuge sind.«
    »Ich glaube, ich kann Ihnen nicht folgen.«
    Jensen setzte sich auf den Tisch.
    Clare musste aufschauen, um ihr ins Gesicht zu sehen.
    »Hier sind Sie, eine Priesterin, Pastorin der örtlichen Kirche. Und Sie geben Mr. Van Alstyne ein Alibi. Normalerweise würde ich sagen: ›Okay, damit wäre das geklärt! Vielen Dank, Reverend!‹« Sie beugte sich vor. »Aber Sie beide haben sich nicht zum Nachtgebet getroffen, oder? Er ist Ihr Geliebter.«
    »Das … das ist nicht ganz korrekt.«
    »Umso mehr ein Grund, ihm dabei zu helfen, seine Frau loszuwerden. Er würde nicht mit Ihnen schlafen, solange sie da war, also …« Jensen fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. »Ihre Kirche hat kein Problem damit, wenn ein Witwer ein zweites Mal heiratet, nicht wahr?«
    »Das ist lächerlich! Ich schlafe nicht mit einem verheirateten Mann, aber Mord geht für mich in Ordnung? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
    »Eines habe ich gelernt, Reverend, Mord ergibt meistens keinen Sinn. Ein Sechzehnjähriger tötet einen Zwölfjährigen, weil der Kleine ihn mit einem Wasserballon gehauen hat. Ein Mann prügelt einen anderen vor einer Bar zu Tode, weil er glaubt, der hätte es auf sein Mädchen abgesehen. Ein paar Herumtreiber zerren eine alte Oma hinter ein Einkaufszentrum

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