Wer morgens lacht
ehrlich ist, nur aus einem Gewirr von Gedanken und Gefühlen herausgefischt. Manche Einzelheiten lassen sich nicht mehr klar definieren und andere haben sich untrennbar ineinander verkeilt. Man tappt bei der Suche wie blind umher, und am Schluss fragt man sich, wieso man nur so dumm gewesen war, sich auf eine derart hoffnungslose Suche überhaupt einzulassen. Man hätte sich denken können, dass die Vergangenheit in einem Sumpf versinkt, aus dem nur unzusammenhängende Details herausragen wie vertrocknete Stängel.
Am nächsten Morgen wache ich mit einem Brummschädel auf. Meine Augen sind dick und brennen, mein Mund ist trocken, meine Zunge fühlt sich an wie aus Pappe und klebt am Gaumen, und das Licht, das durch das Fenster hereinfällt, ist grell und flimmert wie eine defekte Lichtröhre, und als ich aufstehe, fangen der Schreibtisch und der Stuhl und das Fenster an zu schwanken, alles dreht sich um mich und die Wände senken sich nach innen und kommen langsam auf mich zu. Ich fühle mich schlapp wie ein leerer Kartoffelsack. He, Anne, sage ich mir, reiß dich zusammen, so geht das nicht, und Marie sagt, trittst du jetzt etwa in meine Fußstapfen?
Da ist sie ja wieder, wie immer im falschen Moment.
Hau doch endlich ab, sage ich laut und atme ein paarmal tief durch, die Wände kehren an ihren ursprünglichen Ort zurück und bleiben aufrecht stehen, Tisch und Stuhl und Fenster rücken wieder an ihren Platz und alles sieht aus, wie es aussehen sollte. Und dann fällt mir der Traum ein. Es liegt nicht nur am Alkohol, dass ich mich so gottserbärmlich schlecht fühle, drei Gläser Wein allein können so viel nicht angerichtet haben, selbst wenn man nicht an Alkohol gewöhnt ist, und der Wein war kein billiger Fusel, er stammt schließlich von Kevins Eltern.
Ich gehe ins Bad und dusche lange und ausgiebig, dann mache ich mir in der Küche Kaffee, es ist neun, die anderen, pflichtbewusst, wie sie sind, sind schon in der Uni. Ich werde zu Hause bleiben und weiterschreiben, ich könnte ja wirklich eine Grippe haben, denke ich, und so miserabel, wie ich mich fühle, ist das höchstens eine halbe Ausrede. Ich zwinge mich, zum Kaffee ein paar Bissen Brot mit Käse zu essen, nicht aus Hunger, nur aus Gründen der Vernunft, dann sitze ich wieder an meinem Schreibtisch, spitze die Bleistifte, lege Spitzer und Radiergummi im rechten Winkel darüber und überlege kurz, ob ich vielleicht irgendwie zwanghaft bin, doch ich verwerfe den Gedanken gleich wieder, was heißt da zwanghaft, ich bin höchstens ein bisschen ordentlich, gut, auch das habe ich wohl von Omi übernommen.
Die Sonne scheint, auf dem Balkon gegenüber sitzen Freddy und Markus und frühstücken, sie haben dicke Pullover übergezogen, es sieht offenbar wärmer aus, als es wirklich ist. Rührend, wie sie sich gegenseitig Kaffee einschenken und einer dem anderen Brot und Butter reicht, man könnte neidisch werden. Ich greife nach einem Bleistift und schlage ein neues Blatt auf.
In der Nacht hatte ich einen Traum, fange ich an, einen Traum, den ich bereits früher mal geträumt haben muss, auch wenn ich mich nicht wirklich an ihn erinnere. Ich bin auf einen Turm gestiegen und habe eine wunderbare Landschaft vor mir liegen gesehen, aber als ich zurückgehen wollte, war die Treppe verschwunden, ich musste in die Tiefe springen. Ich spürte den Fallwind an der Haut, kalt und nass, es war ein endloser Sturz, ich fiel und fiel, hörte nicht auf zu fallen, bis ich irgendwann aufschlug, aber nicht auf Stein oder harter Erde, sondern auf Wasser. Um mich herum wurde es dunkel, ich bekam keine Luft mehr, ich gurgelte, Wasser drang in meine Lungen und ein schrecklicher Schmerz füllte mich ganz aus, meine Bewegungen wurden schwächer und dann verlor ich die Besinnung, ich versank in einer erlösenden Ohnmacht.
Morgens, beim Aufwachen, war mir, als tauchte ich aus dieser Ohnmacht auf, und mit der Erinnerung an den Schmerz war der Gedanke an den richtigen Anfang da, es war derSchmerz, der mir geholfen hatte, ihn zu finden. Nicht der heilige Antonius, es war der Schmerz, Omi, dachte ich, man muss für alles bezahlen, und der Schmerz ist der gerechte Preis. Ich war erleichtert, dass es endlich passiert war, dass ich mich endlich erinnern musste.
Ich habe nie vergessen, was Katrin, unsere Psychologin, mal gesagt hat, als sie mit Jakob das Problem der Erinnerung diskutierte, den Anlass dazu weiß ich nicht mehr, aber ich habe mir ihre Worte gemerkt. Es soll sich ja keiner
Weitere Kostenlose Bücher