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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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einbilden, dass alles stimmt, woran er sich zu erinnern meint, hat sie gesagt. Die Erinnerung ist hinterlistig, sie ist selektiv, sie blendet nicht nur das aus, was ihr unwichtig erscheint, sie verdrängt auch, woran sie nicht mehr denken will, sie schönt, formt um, dramatisiert, schwächt ab und überhöht, wie es ihr gerade in den Kram passt, und mit jedem Mal, wenn man sich an etwas erinnert, fügt sie irgendwelche Dinge hinzu und lässt andere weg, und nachträglich kann man bei diesem oder jenem nicht mehr sicher sein, ob es wirklich so war, wie man meint, oder ob einem die Erinnerung einen Streich spielt. Glaub mir, man sollte Erinnerungen gegenüber immer misstrauisch sein, sowohl den eigenen gegenüber als auch gegenüber den Erinnerungen anderer.
    Ich habe sofort an meine Omi gedacht, an ihre Erinnerungen an dahaam, die hätte ich Katrin als Beweis für ihre These anbieten können, doch ich war damals noch zu neu in der WG und habe nicht gewagt, mich einzumischen, aber ich habe genau zugehört und seither immer wieder darüber nachgedacht, und ich glaube, Katrin hatte recht. Deshalb bin ich mir nicht so sicher, ob das, woran ich mich erinnere, wirklich so war, oder ob ich es nicht nachträglich verändert habe, immerhin war ich damals erst zehn und heute bin ich zweiundzwanzig, ich hatte also genug Zeit, zu verdrängen, zu schönen, umzuformen, zu dramatisieren, abzuschwächen und zu überhöhen.
    Es fing mit Omis Tod an, sie war nach langer Krankheit gestorben, jetzt ist sie erlöst, hatte meine Mutter gesagt, als es endlich so weit war. Mich hat Omis Tod hart getroffen, ich war verzweifelt, es war der größte Schmerz in meinem Leben, und ich wusste nicht, wie es ohne sie weitergehen sollte, ob es überhaupt einen Sinn hatte, ohne sie weiterzuleben. Ich glaube, ich habe viele Tage wie im Traum verbracht oder besser wie betäubt, ich habe aus dieser Zeit nur noch wenige Bilder, die wie aus schwarzem Nebel auftauchen und sich kaum greifen lassen. Das Erste, woran ich mich erinnere, ist, dass unsere Mutter an einem Samstagmorgen beim Frühstück sagte, wir müssen endlich Omis Zimmer ausräumen, damit jede ihr eigenes Zimmer bekommt, und bevor ich anfange, die Sachen zu sortieren, was wir noch brauchen, was man spenden kann oder wegwerfen muss, solltet ihr beide alles durchschauen und euch überlegen, was ihr zur Erinnerung behalten wollt, ich habe mir schon die alten Fotos ausgesucht.
    Ich betrat hinter Marie Omis Zimmer, zum ersten Mal seit ihrem Tod. Eine Weile stand ich unschlüssig da, der Raum sah so anders aus ohne sie, fremd und irgendwie geisterhaft leer, und es war kalt, niemand hatte den Ölofen angemacht, wozu auch, wenn keiner mehr da war, der Wärme brauchte. Und während ich so dastand, fröstelnd, mit hochgezogenen Schultern, ging Marie entschlossen zu Omis Kommode, zog die mittlere Schublade auf und suchte unter den riesigen Schlüpfern und den Halterlich nach der kleinen, muschelbesetzten Schatulle.
    Ich nehme die Goldkette, sagte sie.
    Plötzlich kam ich wieder zu mir, ich protestierte, ich will sie auch.
    Du kannst ja was anderes nehmen, sagte Marie und drückte die Schatulle an die Brust.
    Nein, ich will die Kette, schrie ich.
    Wir standen uns gegenüber wie Feindinnen, keine von uns war bereit nachzugeben. Heute glaube ich nicht, dass der Schmuck, ein dünnes Kettchen mit einem kleinen, goldenen Kreuz als Anhänger, wirklich wertvoll war, ich weiß auch nicht, ob ich es damals glaubte, darum ging es nicht, jedenfalls mir nicht, obwohl das Wort Gold einen besonderen, magischen Zauber auf mich ausübte. Der Grund war vielmehr, dass Omi diese Kette mit dem Kreuz immer wie einen großen Schatz gehütet hatte. Sie selbst konnte sie nicht mehr tragen, dafür war ihr Hals zu dick geworden, aber das Schmuckstück stammte von ihrer Mutter, unserer Urgroßmutter, die wir nicht mehr kennengelernt haben, sie hatte die Kette noch aus der Heimat mitgebracht, aus Vierzighuben. Heute neige ich dazu, zu sagen, Marie kämpfte vielleicht um das Gold, ich kämpfte um die Erinnerung, jedenfalls würde ich mir wünschen, um die Erinnerung gekämpft zu haben.
    Ich versuchte, Marie die Schatulle aus den Händen zu reißen, aber sie wehrte sich. Sie war drei Jahre älter als ich, natürlich war sie größer und stärker, doch ich war, glaube ich, leidenschaftlicher. Wir schlugen aufeinander ein, bis Marie die Schatulle so hoch hielt, wie sie konnte, sodass sie für mich unerreichbar war, und kühl sagte:

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