Wer morgens lacht
Partie verabreden möchte, oder eine Klassenkameradin von Anne, die zwei Tage gefehlt hat und nun wissen will, wie weit sie in Mathe oder in Englisch gekommen sind.
Der Vater geht hinüber und macht den Fernseher aus, bevor er den Hörer abnimmt. Plötzlich ist es sehr still. Er steht in der offenen Tür, und sie sehen, wie sich sein Gesicht verändert, während er zuhört, es verliert die Konturen, wird teigig und schlaff, er steht da und umklammert das Telefon, als wäre es ein Rettungsring, an dem er sich festhalten müsste, um nicht zu ertrinken, und Anne hat auf einmal das Gefühl, als säße sie seit Ewigkeiten so da und sähe zu, wie sich seine Mundwinkel verschieben, wie sich seine Lippen öffnen, als müsste er nach Luft schnappen, es ist wie in einem Kriminalfilm, eine Katastrophe, der Hauptdarsteller, ein liebender Vater, erfährt vom Tod seiner Tochter. Und als er, ohne ein Wort gesagt zu haben, den Hörer auf das Telefontischchen fallen lässt, mit einem Krachen, das in der Stille unerträglich laut klingt, ist er ein anderer Mensch geworden, von einer Minute auf die andere ist er zusammengefallen wie ein leerer Kartoffelsack. Das war Marie, sagt er, sie hat gesagt, sie kommt nicht mehr heim, nie mehr. Wir sollen sie in Ruhe lassen, hat sie gesagt, keine Polizei, hat sie gesagt.
Er steht noch immer da, versteht ihr das, wir sollen sie in Ruhe lassen, was meint sie damit, in Ruhe lassen, wir haben sie doch in Ruhe gelassen, wir haben sie doch nie zu etwas gezwungen, sie hat doch immer alles tun dürfen, was sie wollte. Seine Stimme bricht. Marie doch nicht, sagt er mit dieser gebrochenen Stimme, doch nicht Marie. Er nimmt die Whiskeyflasche aus dem Schrank, gießt sich ein Glas ein, lässt sich in dem nun stillen Wohnzimmer in einen Sessel fallen und reagiert gar nicht, als die Mutter aufsteht, das Telefon auf das Gerät zurücklegt und sagt, das kann sie doch nicht tun, sie darf nicht einfach weggehen, sie ist ja noch nicht volljährig. Was hat sie gesagt, wo sie ist?
Als ob Marie sich jemals darum geschert hätte, was sie darf oder nicht, oder als ob sie je gesagt hätte, wo sie ist, sagt Anne und merkt noch immer nicht, dass etwas Entscheidendes passiert ist. Sie denkt, das ist doch keine Katastrophe, Marie ist am Leben, sie hat angerufen, eine Katastrophe ist, was heute in London passiert ist, eine Katastrophe wäre es vielleicht gewesen, wenn die Polizei angerufen und gesagt hätte, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass … Aber nein, solche Nachrichten überbringt die Polizei persönlich, das kennt sie aus Kriminalfilmen, da stehen immer zwei Polizisten an der Tür und klingeln, meistens ein Mann und eine Frau, und man sieht ihren ernsten Gesichtern sofort an, dass etwas Schlimmes passiert ist.
Ihr Vater gießt sich einen zweiten Whiskey ein, und Anne denkt, so reagiert er immer, andere Möglichkeiten hat er nicht, und zugleich versucht sie zu verstehen, was er gesagt hat, Marie kommt nicht mehr heim, sie will nicht mehr heimkommen, nie mehr, sie hat ein anderes Leben gefunden, ein Leben, in dem der Himmel blauer ist und die Sonne wärmer scheint. Und ihr erster Gedanke ist, sie hat mich im Stich gelassen. Später, viel später, wird sie sich diesen Gedanken übel nehmen. Und dann denkt sie, das kann doch gar nicht sein, ihre rote, glänzende Jacke hängt noch an der Garderobe, die Jacke, die sie erst diesen Sommer bekommen hat. Wenn sie vorgehabt hätte, für immer wegzugehen, hätte sie doch ihre Lieblingsjacke mitgenommen, und was ist mit ihrem MP3-Player? Liegt er noch immer oben in ihrem Zimmer, wie gestern und vorgestern?
Ihr Vater trinkt einen weiteren Whiskey, er schüttet das Zeug in sich hinein wie Wasser, als wollte er möglichst schnell vergessen, was er gerade gehört hat, als wollte er die Worte seiner Tochter in Whiskey ertränken, und dann trinkt er noch ein Glas, bis er alles von sich wegschieben und die Mutter beschimpfen kann. Du hast sie aus dem Haus getrieben, sagt er mit lauter, überkippender Stimme, du warst es, mit deinen übertriebenen Forderungen und deinen ewigen Vorwürfen, und wenn du so weitermachst, treibst du mich auch noch aus dem Haus, mich und Anne, und dann kannst du sehen, wo du bleibst.
Seltsamerweise lässt die Mutter ihn reden, sie sieht so hilflos aus, wie Anne sie noch nie erlebt hat, auch nicht nach Omis Tod. Sie weiß nicht, was sie sagen soll, deshalb steht sie auf und räumt das Geschirr in die Spülmaschine, dreht den Wasserhahn auf und spült
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