Wer nach den Sternen greift
Bildung ist nie vergeudet.«
»Sie ist siebzehn und war noch nie verliebt. Sie ist mit allem Möglichen beschäftigt und hat gar keine Zeit für Jungen.«
»Vielleicht sieht sie ja die Ehe auch nicht als Weg zum Glück an.«
»Das wäre kein Wunder, wenn man bedenkt, was sie zu Hause mitbekommt.« Alex dachte einen Moment lang nach. »Andererseits, was gibt es sonst für Möglichkeiten für eine Frau?«
»Reicht das Glück, das man in der Ehe findet, aus? Ich glaube nicht.«
»Du weißt, dass es nicht so ist.«
»Was ist mit Madame Curie? Den Brontës? Gib Lina Zeit, ihren eigenen Weg zu finden.«
Mit ihren siebzehn Jahren war Lina ein zerbrechlich aussehendes Geschöpf mit einem eisernen Willen. Meistens las sie, aber sie gewann auch bei sämtlichen Tennisturnieren, bei denen sie mitspielte. Sie spielte Golf mit Oliver, bis dieser es nicht mehr ertrug, ständig von ihr geschlagen zu werden. In ihrem Schlafzimmer hingen unzählige Trophäen von Reitturnieren. Sie schiente die Flügel verletzter Vögel und blieb ganze Nächte lang wach, um kranke Hunde zu pflegen. Sie schlief im Stall, wenn eine Geburt bevorstand, und rettete einmal sogar ein Fohlen, das in Steißlage gelegen hatte.
Auf Partys war sie von Jungen umringt, weil sie zierlich und schutzbedürftig wirkte. Ihren scharfen Verstand hielt sie geheim. Den kannte nur ihre Mutter, die von ihr völlig hingerissen war. Einmal sagte Alex zu Philippe: »Wenn ich die Person benennen sollte, die ich am interessantesten auf der ganzen Welt finde, würde ich Lina nehmen.«
»Sie sagt, bis sie dreißig ist, heiratet sie auf keinen Fall. Dazu hat sie viel zu viel zu tun.«
Oliver hatte gegen die Reisen in die Provence nichts einzuwenden. Er wusste, dass Iris Alex und die Kinder auf den Familienbesitz begleitete. Jedes Jahr fragte Alex ihn der Form halber, ob er sie nicht begleiten wolle, aber er verdrehte bloß die Augen und erklärte, dass ihn keine zehn Pferde in das Provinznest bekämen.
Es war einfach nicht seine Art, Urlaub zu machen. Im ersten Jahr war er stattdessen nach Italien gefahren, aber dort war es mittlerweile zu unruhig geworden.
1936 remilitarisierte Hitler entgegen dem Versailler Vertrag das Rheinland. Im März 1938 marschierten seine Truppen in Österreich ein, und er besetzte das Sudetenland. Es waren Zeiten voller Angst, auch wenn die Franzosen und die Engländer versuchten, sie zu ignorieren. Schließlich gab es die Maginot-Linie, und die Deutschen konnten nicht einfach so in Frankreich eindringen. Die Regierung beruhigte die Bürger und erklärte, dass Frankreich vor einem weiteren Krieg mit seinem nächsten und größten Nachbarn geschützt sei. Die Maginot-Linie reichte von den Schweizer Alpen bis zur belgischen Grenze, wo sie in den Ardennen endete, und dort war der Wald undurchdringlich. Keine Armee konnte ihn überwinden.
Alex und Philippe trafen sich etwa jede zweite Woche. Philippe hatte ein hübsches Haus mit Blick auf den Kanal erworben, in einem Ort an der Küste, der sechsmal am Tag von der Fähre angefahren wurde. Einige Male kam er auch nach England, immer begleitet von seiner Schwester, die sich mit Oliver in der Stadt traf, um zu plaudern und Kunst zu kaufen. Oliver fand Philippe ganz in Ordnung, war ihm aber nicht so eng verbunden wie Iris oder ihrem Mann, und deshalb war er froh, dass Alex sich um ihn kümmerte, während er mit Iris durch die Kunstgalerien streifte. Alex und Iris waren gute Freundinnen geworden, die über Gott und die Welt miteinander plauderten, jedoch nie ein Wort über die Beziehung zwischen Alex und Philippe verloren. Alex war auch klar, dass Iris Oliver in einem anderen Licht sah. Sie fand ihn amüsant und kenntnisreich, was die Kunst der Impressionisten und des Art déco anging.
In der letzten Woche ihres Aufenthaltes in der Provence, an einem Nachmittag, als die gesamte Familie, einschließlich des alten Renoir, gerade zu einem Picknick aufbrechen wollte, rief Clarissa Alex an. »Oliver ist krank«, sagte sie. »Die Ärzte glauben, es sei Polio.« Er lag nicht im Krankenhaus, weil man in dem kleinen Ort eine zu rasche Ausbreitung der Infektion fürchtete. »Wir haben ihm einen Raum im Ostflügel hergerichtet, und sie versuchen gerade, eine eiserne Lunge aufzutreiben, die hierhergebracht werden kann. Ich brauche dich.«
Alex nahm sofort den Nachtzug nach Calais, wo sie gegen Mittag auf die Fähre gingen. Am Abend kamen sie im Schloss an.
»Lass die Kinder nicht in seine Nähe«, sagte
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