Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
waren für ihre wilden Aktionen und Affären bekannt. Eines Tages, als sie sich während der Ferien in ihrem Sommerhaus aufhielten, stellten sich Vallie und Eddie mit einer Waffe an ein Fenster im ersten Stock und schossen abwechselnd auf die Familienmitglieder, die unten auf dem Rasen saßen. Großmutter Hall beschloss, dass der Haushalt für ein fünfzehnjähriges Mädchen zu chaotisch war, und schickte Eleanor auf die Allenswood Academy, ein Pensionat für höhere Töchter in unmittelbarer Nähe von London.
Die Direktorin von Allenswood war eine silberhaarige Frau namens Madame Souvestre, mit der nicht zu spaßen war. Sie war Französin und verlangte von den Schülerinnen, dass sie grundsätzlich Französisch sprachen. Und sie forderte unabhängiges Denken. Schülerinnen, die Hausarbeiten einreichten, in denen sie einfach nur das Gelernte wiederkäuten, mussten erleben, wie ihre Arbeiten vor versammelter Klasse in Fetzen gerissen und auf den Boden geworfen wurden.
»Wozu hast du einen Kopf bekommen? Überleg dir doch selbst etwas!«, rief Madame Souvestre wütend.
Ich hielt beim Lesen inne und versuchte, mir vorzustellen, wie mein Leben an so einer Schule ausgesehen hätte. An meiner High School ließ eines Tages einer seinen Rucksack auf den Boden fallen, und die Waffe, die darin steckte, gab einen Schuss ab, der jemand am Bein verletzte. Die Schulleitung brachte es nicht zuwege, Waffen an der Schule zu verbieten, daher verbot man Rucksäcke.
Überraschenderweise blühte Eleanor unter Madame Souvestre förmlich auf. Sie beteiligte sich an lebhaften Diskussionen über weltpolitische Themen. Sie probierte Feldhockey aus, obwohl sie noch nie zuvor ein Spiel gesehen hatte, und schaffte es ins Team. »Ich glaube, das war einer der stolzesten Momente in meinem Leben«, sagte sie später.
In den Ferien lud die Direktorin ihre Lieblingsschülerin ein, sie auf ihren Reisen quer durch Europa zu begleiten. Reisen mit Madame Souvestre war für Eleanor »eine Offenbarung«. »Sie macht einfach alles, wovon man selbst immer vage gedacht hatte, dass man es gern mal machen würde.« Sie schlugen unmarkierte Wanderwege ein und änderten ihre Pläne nach der Laune des Augenblicks. Auf einer abendlichen Zugfahrt durch Italien nahm Madame Souvestre spontan ihre Koffer aus dem Gepäcknetz und scheuchte Eleanor aus dem Zug. Sie wollte am Strand spazieren gehen und das Mittelmeer im Mondlicht sehen.
»Danach sollte ich nie wieder die gehemmte kleine Person sein, die ich vorher gewesen war«, schrieb Eleanor. Ihre Cousine Corinne erkannte sie kaum wieder, als sie ein paar Jahre nach Eleanor in Allenswood ankam. Ihre ungeschickte, zaghafte Cousine hatte sich zu einer selbstbewussten jungen Frau entwickelt. »Als ich dazukam, war sie an der Schule der hellste Stern«, erzählte Corinne später. »Jeder liebte sie.« Eleanor verließ Allenswood nach drei Jahren, als ihre Großmutter darauf bestand, dass sie in der Gesellschaft von New York debütieren sollte. Das war das Ende ihrer offiziellen Ausbildung, obwohl sie sich schwor, niemals mit dem Lernen aufzuhören.
»Jedes Mal, wenn man etwas lernt, muss man den gesamten Rahmen seines bisherigen Wissens hinterfragen und gegebenenfalls anpassen …«, meinte sie. »Doch das bereitet sehr vielen Menschen Probleme, weil sie eine angeborene Angst vor jeder Veränderung zu haben scheinen, egal, in welcher Form sie auftritt: veränderte zwischenmenschliche Beziehungen, veränderte soziale oder finanzielle Verhältnisse. Das Neue oder Unbekannte ist in solchen Köpfen etwas Feindliches, geradezu Bösartiges.«
Ich muss etwas Neues lernen . Ich legte die Autobiografie aus der Hand. Als ich klein war, hatte ich immer neue Sachen ausprobiert: Schultheater, spezielle Mathematikkurse oder einfach die neueste Sportart, mit der uns unsere Sportlehrer malträtierten. Ich hatte nicht immer Erfolg – so kann ich mich zum Beispiel erinnern, dass Völkerball einer meiner absoluten Tiefpunkte war –, aber ich versuchte es zumindest. Wir hatten ja auch gar keine andere Wahl. Damals hatten wir Eltern und Lehrer, die dafür sorgten, dass wir uns Herausforderungen stellten. Dann wurde ich erwachsen. Und zum Luxus des Erwachsenseins gehört es, dass man keine Dinge mehr tun muss, bei denen man sich unwohl fühlt.
Ich ließ mich in meinen alten Sessel fallen und wischte ein paar Vogelfutterreste von der Armlehne. Der Käfig mit meinen Sittichen Jesus und Stuart stand direkt neben dem Sessel. Wenn man in
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