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Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)

Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)

Titel: Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noelle Hancock
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Ich war überrascht, andererseits aber auch nicht überrascht. Jessica ist eine widersprüchliche Person. Zierlich, aber mit einer Riesenpersönlichkeit gesegnet. Ein süßes Gesicht, aber ein bissiger Humor. Sie ist der rechthaberischste Mensch, den ich kenne, aber keiner von meinen Freunden verurteilt so wenig. Zu ihrem New Yorker Sinn für Mode gesellt sich ein bodenständiger Michigan-Akzent. Chris’ Salto war nicht ganz so elegant, da er mit längeren Gliedmaßen zu kämpfen hatte, aber er machte seine Sache auf dem Trapez ebenfalls gut.
    »Das war prima«, sagte Jessica, als er sich wieder neben uns setzte.
    Er deutete auf seinen Sicherheitsgurt und meinte: »Tja, ich hatte einfach genug schwulen Sex, um mich auf so was vorzubereiten.«
    Als ich dran war, tauchte ich meine Hände auf Teds Anweisung in die Schale mit dem Kreidepulver. Die Kreide saugt den Schweiß auf, sodass einem nichts durch die Handflächen gleiten kann.
    »Ich wette mit dir um zehn Alprazolam, dass sie nicht springt«, flüsterte Jennifer Chris so laut zu, dass ich es mitbekam.
    »Die Wette gilt«, antwortete Chris.
    »Das hab ich gehört!«, rief ich ihnen zu.
    Dann kroch ich so langsam wie nur irgend möglich die Leiter hoch. Während ich auf meine weißen Hände sah, die sich um die Sprossen klammerten und so aussahen, als gehörten sie gar nicht zu mir, erinnerte ich mich an die Äußerung eines Chirurgen in einer Doku, die ich im Fernsehen gesehen hatte. Wenn man eine Hand wieder annäht, ist es nicht so schwer, die Knochen zu richten oder die Arterien wieder miteinander zu verbinden – das Schwierigste sind die Nerven. Sobald sie erst einmal durchtrennt sind, bauen sich die Nerven nicht so leicht wieder auf. Nach einer Operation wachsen sie ungefähr drei Zentimeter pro Monat nach. Das ist ein langwieriger Prozess. Manchmal kommen sie gar nicht wieder, und die Hand bleibt gelähmt.
    Jessica hatte mir gesagt, am schlimmsten sei das Hochklettern auf der wackligen Leiter gewesen, doch sobald ich auf die Plattform trat, wusste ich, dass sie eine Lügnerin war. Da das Gerüst auf einem fünfstöckigen Gebäude stand, schien das Trapez einfach schrecklich hoch zu hängen. Meine Beine zitterten, und ich griff automatisch nach einer Metallstange des Gerüsts, die mir einigermaßen sicher aussah. Auf der Plattform wurde ich von Hank erwartet, einem Trainer von über sechzig Jahren, der sein luftiges Reich mit fester Hand regierte und einen Schnurrbart trug, wie er eigentlich Sheriffs in Westernfilmen aus den Vierzigerjahren vorbehalten war. Nach einem kurzen »Hallo« befestigte er mit brüsken Bewegungen die Sicherheitsleinen an meinem Taillengurt. Hoffentlich entging ihm, dass der Rücken meines Tanktops schweißnass war.
    »So, fertig! Ab die Post!«, dröhnte er und hielt mir das Trapez vor die Nase. Ich griff nicht danach. Sein sachlich-distanzierter Gesichtsausdruck verriet mir, dass er es darauf anlegte, mich zu blamieren, um mich dazu zu bringen, es zu ergreifen. »Na los, es ist nicht anders, als würden Sie vom Bordstein auf die Straße treten. Sie haben doch auch keine Angst, wenn Sie vom Bordstein auf die Straße treten, oder?«
    Keine Ahnung, wie in seinem Viertel die Bordsteine aussahen, aber bei mir gähnten dahinter weder Zehn-Meter-Abgründe, noch musste ich vorher eine Erklärung unterschreiben, dass ich auf alle Ansprüche verzichtete, falls es »zum Tode oder zu unfallbedingtem Verlust von Gliedmaßen kommen sollte«.
    Misstrauisch zupfte ich an einem der Seile, das er an meinem Geschirr befestigt hatte. »Besteht die Gefahr, dass ich mich beim Fallen darin verfange? Könnte ich mich damit köpfen oder so was?«
    »Ist bis jetzt noch nicht vorgekommen«, sagte er, und ich schwöre, ich hörte einen hoffnungsvollen Unterton in seiner Stimme.
    Ich blickte hinter mich zur Leiter und seufzte. Das Einzige, was mir noch mehr Angst machte, als von dieser Plattform zu springen, war die Aussicht, diese Leiter rückwärts wieder hinuntergehen zu müssen. Ob sie die Leiter wohl extra so wackelig machten, damit Leute wie ich nicht kneifen konnten? Ich beschloss, dass ich mich eben damit abfinden würde, den Rest meines Lebens auf dieser Plattform von der Größe eines Cafétischchens zu verbringen. Ich würde es schon schaffen. Ich könnte ja auf der Plattform arbeiten, so wie Hank. Und das Essen könnte ich mir liefern lassen. »Ich wohne im obersten Stockwerk«, würde ich dem Typen vom Lieferservice sagen.
    »Stellen Sie sich

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