Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
einem 30-Quadratmeter-Studio wohnt, steht alles direkt nebeneinander. Ich beugte mich über den zum Sessel passenden Hocker, den ich auch als Schreibtisch nutzte, und fuhr meinen Computer hoch. Als die Liste meiner Ängste auf dem Bildschirm erschien, überflog ich sie auf der Suche nach einer Idee. Ganz oben auf der Liste stand: Höhen . Ich suchte im Internet mit den Begriffen Höhen und New York . 45 Millionen Treffer.
»Jesus!«, sagte ich laut, dann warf ich einen Blick auf meinen Sittich Jesus. »Nicht du.«
Als ich mich umdrehte, fiel mir die Biografie ins Auge, die immer noch auf dem Sofa lag. Ich dachte an die Allenswood Academy und fügte Schule als zusätzlichen Suchbegriff hinzu. Die erste Website, die erschien, war die der Trapeze School New York. Ich spürte richtig, wie ich innerlich zurückwich, meine typische Reaktion, wenn ich mich etwas Neuem gegenübersah. Der Slogan des Unternehmens lautete passenderweise: »Vergessen Sie die Angst – machen Sie sich lieber Sorgen um die Suchtgefahr!« Ich musste zugeben, das Ganze war perfekt: ein buchstäbliches Sprungbrett für mein Jahr der Angst. Ich widerstand dem Drang, nach einer Ausrede zu suchen, und rief stattdessen Chris an.
»Ich weiß jetzt, was wir an meinem Geburtstag machen.« Ich erzählte ihm alles von der Trapezschule. »Jessica werd ich auch fragen.« Jessica ist eine meiner engsten Freundinnen und Redakteurin von Chris’ Website.
Er lachte hohl. »Kannst du sie bitte während der Arbeitszeit anrufen? Ich will ihr Gesicht sehen, wenn sie das hört.«
»Sehr witzig.«
Andererseits hatte Chris nicht ganz Unrecht. Jessica hat den tollsten Körper, den ich je gesehen habe, aber wahrscheinlich hat sie zum letzten Mal Sport gemacht, als ihr das Fitnessstudio um die Ecke eine Probestunde angeboten hatte. »Das muss früher mal der Kraftraum eines Gefängnisses gewesen sein«, erzählte sie hinterher. »Wenn man die Geräte anfasst, kann man sich nach dem Training erst mal einer chemischen Reinigung unterziehen. Einmal und nie wieder!«
Sie nahm noch vor dem zweiten Klingeln ab, und ich fiel gleich mit der Tür ins Haus. »Du, ich habe mir gedacht, dass Chris, du und ich an meinem Geburtstag in die Trapezschule gehen.«
»Oh Gott, im Ernst? Was soll das denn werden – eine Wiederholung von Sex and the City ?«
»Wieso?«
»Da gab’s auch mal eine Folge, in der Carrie eine Stunde in der Trapezschule genommen hat.«
»Okay, so was hab ich mir vorgestellt – nur ohne den Sex.«
»Gibt’s da zumindest eine Bar?«
Am Abend meines neunundzwanzigsten Geburtstags traf ich mit zwei meiner besten – und am leichtesten zu manipulierenden – Freunde in der Trapeze School New York ein. Die Schule befand sich auf dem Dach eines fünfstöckigen Gebäudes mit diversen Fitnessstudios. Es lag am Hudson River, an der Manhattan West Side, und man hatte einen spektakulären Ausblick über die Stadt und auf die Grünflächen, auf denen die Leute in der Spätnachmittagssonne Fußball und Feldhockey spielten.
»Hua!« Jessica blickte hinunter und schüttelte angewidert den Kopf. »Schau dir diese ganzen gesunden Leute an! Vergiss die Drogenhöhlen – das ist die Schattenseite von Manhattan!« Jessica und ich hatten uns vor vier Jahren über einen Blog kennengelernt. Sie war Redakteurin einer Seite, für die ich ab und zu als Freie arbeitete. Unsere Freundschaft war langsam entstanden. Erst E-Mails, dann SMS , und irgendwann fingen wir an, uns persönlich zu treffen. Mittlerweile gab es keinen Tag mehr, an dem wir nicht miteinander sprachen.
Sie band sich das hellbraune Haar mit den frischen Strähnchen zu einem Pferdeschwanz zusammen, den sie mit grimmiger Resignation strammzog. Am Abend zuvor hatte sie mir noch mitgeteilt, sie habe keine Sportbekleidung und würde deswegen in den Leggings der letzten Saison antreten. Die waren eigentlich dazu gedacht, dass man sie unter einem Kleid trug, und waren im Schritt transparent. »Meinst du, die kann ich trotzdem anziehen?«, fragte sie. »Ich finde, meine Vagina sieht ganz gut aus.« Glücklicherweise hatte ihr jemand morgens im Büro noch eine Yogahose leihen können.
»Hübsches Shirt übrigens«, sagte ich zu Chris. Er trug ein eng anliegendes Frauen-T-Shirt mit der Aufschrift: BEAT ME WITH 10 POUNDS OF VOGUE .
Er grinste. »Auf der Website stand schließlich, man solle anliegende Kleidung tragen.« Er sah schlaksig und unbeholfen aus, aber Chris war dennoch sportlicher als Jessica und ich zusammen.
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