Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
sondern musste wirklich versuchen, mich mit der Situation anzufreunden. Ich würde jedes Stadium miterleben, vom Eintreffen der Leiche bis hin zur Trauer der Familien beim Begräbnis. Es wäre eine Art Konfrontationstherapie , wie er es nannte.
»Wenn Sie die ganze Zeit mit Toten zu tun haben, werden Sie erfahren, dass man von den Toten nichts zu befürchten hat«, meinte Dr. Bob. »Und es wird Sie daran erinnern, dass Sie sich Ihrem Leben widmen sollten.«
Das Bestattungsinstitut wurde von einem Mann namens Terry betrieben. Ich hatte ihn über einen Freund gefunden, dessen Mutter ebenfalls Bestattungsunternehmerin war und der vor ein paar Jahren selbst mit ihm zusammengearbeitet hatte, bis er sein eigenes Unternehmen in einer kleinen Stadt in Ohio gründete. Als ich Terry mein Projekt erklärte, sagte er, ich sei herzlich willkommen und könne ihm und seinen Angestellten eine Woche lang auf Schritt und Tritt folgen.
Das Institut sah eher aus wie ein Wohnhaus, ein zweigeschossiges Backsteingebäude mit einem Balkon im ersten Stock, auf dem Schaukelstühle standen, und bunten Blumen, die den Weg zur Haustür säumten. Auf einem Schild stand BITTE EINTRETEN , und als ich die Tür aufmachte, ertönte drinnen ein leises Klingeln. Das Zimmer, das ich betrat, sah aus wie ein Esszimmer mit verschiedenen Messinglampen und majestätisch gerafften roten Vorhängen an den Fenstern. In der Zimmermitte stand ein auf Hochglanz polierter rechteckiger Tisch mit dazu passenden Holzstühlen. Die Art von Tisch, um die sich Familien zu besonderen Anlässen versammeln, nur dass hier immer ein Familienmitglied fehlte. Eine Bürotür öffnete sich, und ein fröhlich aussehender Mann mit einer Brille mit Drahtgestell kam heraus.
»Sie müssen Noelle sein!« Und das musste Terry sein, der Leiter des Bestattungsinstituts. Er war groß, aber auffällig birnenförmig, als stammten die obere und untere Hälfte seines Körpers von zwei verschiedenen Leuten. Er hatte mir am Telefon gesagt, dass er achtunddreißig war, aber mit dem ergrauenden Haar zu seinem Kleinjungengesicht sah er zugleich älter und jünger aus, als er wirklich war. Die Wirkung war auf jeden Fall völlig bezaubernd.
»Vielen Dank noch mal, dass ich Ihnen diese Woche helfen darf«, sagte ich, als ich ihm die Hand schüttelte.
»Ich glaube fest daran, dass man seinen Ängsten ins Auge sehen muss. Außerdem bringe ich den Leuten gerne etwas über das Leichenbestattergeschäft bei, also werden Sie in dieser Woche zu jedem Bereich Zugang haben. Kommen Sie, ich führe Sie erst mal herum.«
Ich fühlte mich, als müsste ich durch ein Spukhaus gehen. In jedem dieser Räume konnte eine Leiche lauern. Er führte mich durch eine kleine Waschküche, die vom Esszimmer abging, und blieb vor einer geschlossenen Tür stehen.
»Das ist der Raum, in dem wir die Toten herrichten«, sagte er und griff nach der Klinke. »Hier werden die Leichen einbalsamiert und für die Beerdigung vorbereitet.« Er machte die Tür auf, und ich machte mich auf das Grauen gefasst, dass mich dahinter erwartete. Doch als die Neonlampen angingen, sah das Zimmer eher aus wie ein ganz normales Labor als wie der Schlupfwinkel eines verrückten Wissenschaftlers. An den Wänden standen Schränke mit verschiedenen Instrumenten und Chemikalien. Die fünf Tische aus rostfreiem Stahl waren alle leer.
»Am Wochenende war nichts los, deswegen sind heute keine Leichen hier«, erklärte er und führte mich in einen anderen Raum, der direkt ans Foyer grenzte. »Wie man sieht, ist das hier das Ausstellungszimmer.« Ein Dutzend glänzender Särge stand hier aufgereiht wie die neuen Wagen beim Autohändler, die Deckel zurückgeklappt, als wären es Motorhauben. Ihr satinglänzendes Inneres und die dicken Polster warteten geduldig auf den nächsten Kunden. Die Sargdeckel waren zweigeteilt, und nur der obere Teil war offen – ein Anblick, der mich an den Zaubertrick erinnerte, bei dem der Magier so tut, als würde er eine Person in der Mitte durchsägen. Bei Beerdigungen mit offener Aufbahrung empfand ich immer ein stilles Grauen, als wäre der Zaubertrick schrecklich schiefgegangen und hätte diese Person versehentlich doch getötet.
Er nahm mich mit nach oben, wo derselbe geblümte Teppich unsere Schritte dämpfte wie unten. Im Obergeschoss befand sich eine Kapelle und ein Raum mit feierlichen Sesseln und steifen Sofas in pastellblau und cremefarben. »Amazing Grace« tönte leise aus den Lautsprechern. Ich merkte, dass es
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