Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
Silvester bestimmt geschlossen.
Also lag ich stundenlang verärgert wach. Der arme Matt litt stumm neben mir, obwohl ich sicher bin, er hätte alle Lust gehabt, mich zu packen und zu schütteln. Wir hatten das ganze Wochenende bleiben wollen, aber ich dachte jetzt schon darüber nach, mit welchem Bus ich morgen Nachmittag wieder in die Stadt – und zu meinen verschreibungspflichtigen Schlaftabletten – zurückfahren konnte. Auf keinen Fall würde ich mir noch so eine Nacht wie diese antun. Um vier Uhr morgens – als ich gerade überlegte, ob ich so unverschämt sein sollte, das Medizinschränkchen seiner Eltern nach einer Flasche Wick MediNait zu durchwühlen – setzte ich mich kerzengerade im Bett auf. Auf einmal wusste ich wieder, wo sie waren. Ich schnappte mir die Schlüssel, rannte aus dem Haus und riss den Kofferraum auf. Tatsächlich war die Flasche während der Fahrt aus meiner Tasche gekullert. Als ich siegreich ins Gästezimmer zurückkehrte, hatte Matt die Nachttischlampe eingeschaltet und sich aufgesetzt. Ich tanzte durchs Zimmer und schüttelte die Flasche wie eine Sambarassel. Er rieb sich müde die Augen.
»Das wird langsam wirklich ein ernsthaftes Problem, Noelle. Du bist medikamentenabhängig.«
Ich nahm einen Schluck Wasser, legte den Kopf in den Nacken und schluckte dankbar ein paar Tabletten. »Na ja, das ist vielleicht ein bisschen extrem ausgedrückt, findest du nicht?«
»Extrem? Als wir in Aruba waren, hast du deine Schlaftabletten mit deinem Pass und der Perlenkette im Hotelsafe aufbewahrt!«
»Du hast gesagt, ich soll meine Wertsachen da reintun!«
Matt verdrehte die Augen und schüttelte sein Kissen ein paarmal auf, bevor er sich wieder hinlegte und mir den Rücken zukehrte. Ich schlüpfte neben ihm ins Bett.
»Es ist ja nicht so, dass ich davon high werden würde«, sagte ich zu seinem Rücken. Keine Antwort. »Ich versuche nur, ein bisschen Schlaf zu bekommen – eine grundlegende Körperfunktion, die nebenbei überlebensnotwendig ist.«
»Du nimmst den einfachen Weg«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen. »Du solltest dich lieber mal richtig anstrengen.«
»Mich richtig anstrengen, damit ich einschlafe?«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Aber ich muss schlafen. Ich brauche nur länger als jeder andere, bis ich endlich mal einschlafe. Stell dir doch mal vor, du müsstest drei Stunden zu deinem Arbeitsplatz pendeln, und dann bietet dir jemand eine Möglichkeit an, dich im Handumdrehen ans Ziel zu bringen.«
»Ich würde die sichere Variante wählen.«
»Ja, das sagen alle. Aber ich hab noch keinen gesehen, der mit der Pferdekutsche in die Arbeit gefahren wäre.«
»Machst du dir nie Gedanken, was diese ganzen Tabletten deinem Organismus antun?«, fragte er ruhig.
Statt zu antworten, schaltete ich das Licht aus. Die Antwort lautete »Doch, natürlich«, und ich hatte auch schon einmal versucht, meinen Konsum zurückzuschrauben. Aber es ist erschreckend, wie schnell man bereit ist, seine Leber zu verkaufen, wenn man ein paar Nächte wach gelegen hat. Gerade als ich ihm das sagen wollte, hörte ich, wie sein Atem immer ruhiger und tiefer wurde. Er war fest eingeschlafen.
Angefangen hatte es in Yale. Ich lernte viel auf dem College, aber am nachhaltigsten blieb mir diese Lektion haften: Wie man nicht müde wird. Meine Studienkollegen kamen allesamt von konservativen Privatschulen, an denen es von Lehrern wie Eleanors Madame Souvestre nur so wimmelte. Und wenn sie dann ans College kamen, waren sie für die Ansprüche einer Elitehochschule bestens gerüstet. Sie wussten, wie man ein ganzes Buch in einer Stunde querliest und die wesentlichen Informationen daraus im Kopf behält. Sie schüttelten zwanzigseitige Seminararbeiten an einem Nachmittag aus dem Ärmel und hatten vor dem Abendessen immer noch Zeit für eine Runde Frisbee mit Freunden. Ich hingegen hatte einen Abschluss an einer High School gemacht, von deren Absolventen nur 13 Prozent ihre Ausbildung fortsetzten. Die durchschnittliche Punktzahl, die Schüler an unserer Schule beim Hochschulzulassungstest erreichten, betrug magere 876 von 1600. Ich war also ungefähr so gut aufs College vorbereitet wie der Frühstücksflocken-Pirat Captain Crunch auf das Kommando eines echten Kriegsschiffes.
In meinem ersten Jahr kam ich noch klar. Doch schon im zweiten wuchs mein Arbeitsvolumen, da ich mein Hauptfach gewechselt hatte und Extrastunden nehmen musste. Ich lernte bis drei Uhr morgens, um einfach nur mithalten zu
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