Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
lächelte. »Klingt super.«
Vier Tage später, am Weihnachtsmorgen, saßen Jordan und ich auf dem Wohnzimmerboden, inmitten eines Schlachtfelds aus zerrissenem und zerknülltem Geschenkpapier. Sie hatte gerade mein Geschenk ausgepackt, eine Kette mit einem viereckigen Silberanhänger. Auf dem Anhänger war ein Schwimmer im Meer eingraviert, der den Kopf gerade zum Atemholen drehte.
Als sie die Rückseite betrachtete, ging ihr Blick fragend zu mir. Dort hatte ich nämlich ein Zitat eingravieren lassen. Es stammte nicht von Eleanor und auch nicht von Dr. Bob. Ich war darauf gestoßen, als ich zum Thema Angst recherchierte, und es hatte mir von Anfang an gefallen: Angst ist nichts anderes als Erregung, bloß ohne Atmen .
Für ein Mädchen in ihrem Alter war das Konzept vielleicht ein bisschen zu abstrakt – der Gedanke, Angst könnte das Gegenteil von Atmen sein. Ich war ja auch überrascht gewesen, als ich las, dass Angst und Erregung biologisch fast identisch sind (mit Herzklopfen, Schweißbildung, Muskelspannung), aber dass man Angst in einen angenehmen Erregungszustand verwandeln kann, indem man seine Atmung entsprechend gestaltet.
»Wenn Sie Angst haben und die Luft anhalten, versuchen Sie, die Angst zurückzuweisen«, hatte Dr. Bob mir einmal erklärt. »Doch wie wir wissen, kann man Angst nicht ignorieren. Stattdessen sollten Sie lieber tief einatmen und die Angst einfach annehmen. Wenn Sie tief atmen, sinkt Ihr Angstlevel, und es macht sich zunehmend ein Gefühl angenehmer Erregung in Ihnen breit.«
»Ich erklär’s dir später«, sagte ich mit einem Zwinkern, und das schien Jordan vorerst zu reichen.
»Danke!« Sie legte auf eine süße linkische Art den Kopf auf die Seite, wie es Vierzehnjährige gern tun.
Dann wühlte ich weiter in meinem Weihnachtsstrumpf. Meine Hände berührten etwas Flaches, und ich zog einen unbeschrifteten weißen Umschlag heraus. Darin steckte ein Scheck von meinem Vater. Einen Augenblick starrte ich ihn mit großen Augen an. Mein Vater hatte mich aus seinem Lehnsessel am anderen Ende des Zimmers beobachtet, doch als ich nun zu ihm blickte, wandte er sich wieder eifrig seinem Strumpf zu.
»Deine Mutter und ich dachten, wenn du mit dieser … dieser Sache weitermachen willst, die du da angefangen hast, dann brauchst du vielleicht ein bisschen Unterstützung für deine Bergtour«, sagte er mit einem Ton, der verriet, dass er mein Projekt auf eine brummige Art akzeptierte. »Und wir haben genug Bonusmeilen, dass du kostenlos nach Afrika und zurück kommst. Wir würden sie sowieso nur verfallen lassen, also ist es nur praktisch …«
Wir wussten alle sehr gut, dass an dem, was ich das letzte halbe Jahr über getrieben hatte, überhaupt nichts »Praktisches« war. Und ich wusste auch, dass sie es nicht verstanden. Trotzdem ermöglichte mir der Mann, der praktischer dachte als jeder andere, nach Afrika zu fliegen, damit ich auf einen Berg steigen konnte. In diesem Moment liebte ich meine Eltern so heftig, dass es fast wehtat.
Bevor ich antworten konnte, sagte meine Mutter: »Darf ich noch etwas sagen? Ich schwöre auch hoch und heilig, dass ich es danach nie wieder ansprechen werde.« Sie hatte die ganze Zeit über unsere Geschenke so arrangiert, dass die Freude beim Auspacken immer weiter anstieg. Doch jetzt kam sie zu mir und legte mir die Hand auf den Arm.
»Versprich mir, dass du dich vor Terroristen in Acht nimmst«, bat sie. »Solche Leute würden dich nur zu gern kidnappen und ein Lösegeld erpressen.«
Als ich wieder in New York war, beschlossen Matt und ich, Silvester mit seinen Eltern zu feiern. In ihrem Strandhaus stellte ich mittags um Viertel vor eins fest, dass meine Schlaftabletten nicht in meiner Tasche waren.
»Aber ich weiß , dass ich sie eingepackt habe!«, sagte ich zu Matt. »Ich bin mir sicher, dass ich sie in meine Tasche gesteckt habe.« Ich leerte sie auf dem Teppich aus. Münzen und Lippenstift rollten über den Boden, aber mehr auch nicht. Matt, der sich gerade die Zähne mit Zahnseide reinigte, hielt inne und sah zu, wie ich meinen Koffer durchwühlte und langsam hysterisch wurde.
»Vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht«, meinte er. »Manchmal macht es mir ein bisschen Sorgen, dass du die Dinger jeden Abend nimmst, Schatz.«
Ich antwortete nicht. Dazu war ich viel zu sehr damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich mir noch irgendein Schlafmittel besorgen konnte. Sollte ich noch schnell zu einer Apotheke laufen? Nein, die hatten an
Weitere Kostenlose Bücher