Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
vertrauen.« Als sie sich die Tränen abwischte, blickte sie zur Decke, um ihre Wimperntusche nicht zu verwischen. »Ich … ich hab nur einfach gern Menschen in meinem Leben, um die ich mich kümmern kann, verstehst du?«
»Du könntest ja noch ein Baby kriegen. Jordan ist ungefähr so alt, wie ich war, als sie zur Welt kam.«
Sie musste lachen. »Ja, sicher! Kannst du dir vorstellen, wie dein Vater aus der Wäsche gucken würde?«
»Nein. Ich hab noch nie gesehen, wie jemand einen Schlaganfall bekommt.«
Sie begann hysterisch zu lachen, und ich stimmte ein. Irgendwann hatten wir uns wieder einigermaßen beruhigt und mussten nur noch vereinzelt glucksen.
»So komisch war das auch wieder nicht«, meinte ich. Aus irgendeinem Grund mussten wir prompt wieder losprusten.
Als ich am nächsten Morgen meine Mails checkte, klingelte mein Handy. Ich ging dran, und Jessica begann zu reden, ohne auch nur Hallo zu sagen. Eigentlich unhöflich, aber irgendwie fand ich es auch liebenswert.
»Sieht ganz so aus, als hätte ich einen Weihnachtsbaum gekauft, als ich gestern Nacht von unserer Betriebsweihnachtsfeier zurückgestolpert bin.«
»Warum sagst du ›Es sieht so aus‹?«, wollte ich wissen.
»Weil mitten in meinem Wohnzimmer ein voll geschmückter Weihnachtsbaum steht und ich keine Ahnung habe, wie der da hingekommen ist.«
»Du hast das Ding noch betrunken geschmückt?«, fragte ich. »Ich bin beeindruckt. Bist du nebenbei auch noch vom Judentum zum Christentum konvertiert?« Jessica war Jüdin.
»So blau, wie ich war, ist alles möglich.«
Ich setzte meine Füße an die Tischkante und lehnte mich zurück. Glücklicherweise saß ich auf einem Drehstuhl.
»Und, was gibt’s Neues in Texas?«, wollte Jessica wissen.
»Ich informier mich gerade über den Kilimandscharo. Ein Freund von meinem Vater hat mir vorgeschlagen, dass ich ihn für mein Jahr der Angst besteige. Das hielt ich auch erst für eine gute Idee, bis ich herausfand, auf welche mannigfaltigen Arten man beim Bergsteigen vorzeitig krepieren kann.«
»Der Kilimandscharo? Das ist eine super Idee.« Jessica klang viel enthusiastischer, als ich erwartet hätte. Den Teil, der vom möglichen Tod handelte, musste sie überhört haben. »Das soll ja eine Erfahrung sein, die das Leben verändert. Wusstest du, dass man da oben die Erdkrümmung sehen kann? Und ich hab gehört, dass der Sonnenuntergang von dort aus völlig unvergleichlich aussehen soll.«
»Im Ernst?« Bis jetzt hatte ich mich geistesabwesend mit meinem Stuhl hin und her gedreht, aber jetzt hielt ich inne und richtete mich auf. »Ich hätte nie gedacht, dass du zu den Leuten gehörst, die ein Faible für Outdoor-Unternehmungen haben.«
»Ich weiß. Aber in letzter Zeit kommt mir mein Leben in New York so festgefahren vor. Ich möchte etwas tun, was das genaue Gegenteil von dem Leben in dieser Stadt ist. Wenn es nicht so teuer wäre, würde ich es selbst tun.«
Oje. Ich hatte schon mehr als die Hälfte meiner Ersparnisse aufgebraucht. Geld wurde langsam ein immer wichtigerer Faktor bei meinen Unternehmungen. »Wie viel kostet das denn?«
»Mehrere Tausend.«
Mir sank das Herz in die Hose. »Mit oder ohne Flug und Wanderausrüstung?«
»Ohne.«
»Tja, damit wäre die Idee wohl abgehakt.« Ich stieß mich mit einem Fuß kräftig vom Schreibtisch ab, um mich ein paarmal mit dem Stuhl zu drehen. »Das kann ich unmöglich zahlen, sonst bleibt mir für den Rest meines Projekts kein Geld mehr.« Während ich mich drehte, sah ich verschwommen etwas Großes vorbeiziehen, und ich setzte einen Fuß auf den Boden, um anzuhalten. »Oh! Hallo, Papa. Jess, ich ruf dich nachher zurück, okay?«
Er trug Pantoffeln und seinen langen Flanellbademantel mit dem Monogramm. Mein Vater würde niemals in Boxershorts oder in Pyjamahose und Unterhemd durchs Haus laufen. Was immer er auch tat – ob er aß, sprach oder sich anzog –, er bewahrte sich immer eine gewisse Würde. Ich konnte mich tatsächlich nicht erinnern, ihn jemals im T-Shirt oder mit Jeans gesehen zu haben. Nur wenn er seinen Bademantel und die Pantoffeln anhatte, kam er mir verletzlich vor.
»Ich wollte nicht stören. Ich wollte nur fragen, ob du heute Abend mit mir zum Einkaufen gehst, ich wollte Weihnachtsgeschenke für deine Mutter und deine Schwester besorgen.« Er hielt verlegen inne, dann fügte er hinzu: »Vielleicht wollen wir bei der Gelegenheit ja auch was essen gehen, nur du und ich?« Ein Friedensangebot nach gestern Abend.
Ich
Weitere Kostenlose Bücher