Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
überempfindlicher Vater verfolgte das Geschehen lieber hinter einem sicheren Vorhang). Ich hatte angenommen, dass wir die besten Freundinnen werden würden, denn wir lagen im Alter zu weit auseinander, als dass Geschwisterrivalität hätte aufkommen können. In Wirklichkeit sorgte dieser Altersunterschied jedoch dafür, dass wir uns nie wirklich nahestanden. Aber damals war ich zu jung, um das zu begreifen. Als ich aufs College ging, war sie ein Kleinkind, und seitdem hatte sie mich nur ein paarmal im Jahr gesehen, wenn ich in den Ferien nach Hause kam.
An einer Wand hing eine riesige Korkpinnwand, und ihre ganzen Schwimm-Medaillen baumelten daran, auf einer Breite von mindestens zwei Metern. Sie war erst vierzehn, schwamm aber landesweit schon unter den ersten zehn mit. Als ich auf die Pinnwand blickte, war ich natürlich sehr stolz, aber ich hatte auch Sehnsucht nach ihr. Irgendetwas an diesem Medaillenvorhang zerriss mir das Herz. Jordan war an einem Punkt, an dem es eher überraschend war, wenn sie einmal nicht den ersten Platz belegte, und ich fragte mich, ob an diesem Punkt die Angst vorm Verlieren nicht die Freude am Gewinnen verdrängte.
»Huch, hast du mich erschreckt!«, sagte meine Mutter, die mit der Hand auf der Herzgegend in der Tür stand. Sie duftete nach einem Parfum mit deutlicher Sonnenblumennote. »Ich wusste nicht, dass du hier drin bist. Ich hab bloß die Schere gesucht. Jordan nimmt sie immer mit in ihr Zimmer und vergisst dann, sie zurückzulegen.« Sie trat ein und schüttelte ärgerlich den Kopf. Als sie eine Schublade aufzog, fand sie einen ganzen Haufen Scheren.
»Also wirklich!«, rief sie, aber ihr Ton war zärtlich.
Sie ließ die Finger über die goldene Kette an ihrem Hals gleiten, die sie immer trug. »Glaubst du, es geht ihr gut auf diesem Schwimmwettkampf?«
»Natürlich. Mama, das ist doch ungefähr das hunderttausendste Mal, dass sie zu einem auswärtigen Wettkampf gefahren ist. Die Trainer sind doch bei ihr.«
»Ich glaube, ich ruf noch mal an und vergewissere mich, dass auch wirklich alles in Ordnung ist. Außerdem wollte ich sie noch mal daran erinnern, dass sie nicht so lange aufbleiben und zum Frühstück nur was Leichtes essen soll, sonst kriegt sie am Ende noch einen Krampf beim Schwimmen, und …«
»Mann, hör doch endlich mal auf damit!«, fuhr ich sie ziemlich laut an.
»Womit?« Meine Mutter sah mich verwirrt an.
»Dir ständig Sorgen zu machen.«
»Ich versuche doch nur, sie zu schützen.«
Ich hatte keine Lust auf dieses Gespräch. Das Leben meiner Mutter hatte sich ausschließlich ums Muttersein gedreht, und ich wollte ihr jetzt erzählen, dass sie dabei Fehler gemacht hatte. »Du meinst, dass du ihr hilfst, aber in Wirklichkeit machst du es ihr auf lange Sicht nur schwerer. Sie wird nie lernen, wie sie mit Rückschlägen und Enttäuschungen umgehen muss. Es tut ihr gut, wenn sie ab und zu mal einen Fehler macht«, sagte ich, und damit meinte ich mich genauso wie meine Schwester. »Aus Fehlern lernt man mehr als aus Erfolgen.«
Ich atmete tief durch und fuhr fort. »Du musst ihr die Freiheit lassen, ab und zu auch mal einen Fehler zu machen, damit sie lernt, sich selbst die Freiheit zu geben, mal einen Fehler zu machen.«
Meiner Mutter stiegen Tränen in die Augen, aber ich musste zu Ende sprechen.
»Und ich rede nicht nur von ihr, Mama. Wenn du ständig an den Dingen zweifelst, die ich tue, fühle ich mich, als hättest du kein Vertrauen in meine Fähigkeiten. Und dann zweifle ich auch noch mehr an mir.«
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie sagte: »Ich mach das doch nur, weil ich euch liebe!«
Beim Anblick ihrer Tränen verflüchtigte sich der ganze Frust, der sich in den letzten Monaten bei mir aufgestaut hatte. Mir wurde klar, dass meine Mutter eben liebte, indem sie sich Sorgen machte.
»Aber du bringst ihr damit bei, dass Liebe gleichbedeutend mit Sorgenmachen ist«, sagte ich sanft. »Wenn sie mal größer ist, wird sie glauben, dass man sich nur dann wirklich seiner Karriere widmet, wenn man sich ständig Sorgen um die Arbeit macht. Dass man sich nur dann wirklich seiner Beziehung widmet, wenn man sich ständig Sorgen macht, ob einen der andere betrügt oder einen nicht mehr so liebt wie früher. Das ist nicht gerade die einfachste Art, durchs Leben zu gehen. Ich weiß, dass du dir so etwas nicht für sie wünschst.«
»Nein, du hast ja recht. Ich muss euch Mädchen einfach mehr
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