Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
mit den Leuten auf diese übertrieben nette Art, mit der Frauen die Kinder anderer Leute ansprechen. Doch nach den ersten paar Patienten entspannte ich mich und fand mich hinein.
Die meiste Zeit ging dafür drauf, dass wir Vorsichtsmaßnahmen durchführten, um die Patienten nicht zu infizieren. Bei meinem Einführungskurs hatte ich gelernt, dass alljährlich hunderttausend Menschen an Infektionen sterben, die sie sich im Krankenhaus zuziehen. Also mussten wir bestimmte Vorsichtsmaßnahmen berücksichtigen, bevor wir ein Patientenzimmer betraten. Zunächst wurden die Patienten in eine von drei Kategorien eingeordnet, die die Empfindlichkeit ihres Immunsystems bezeichneten. Ein entsprechender Hinweis hing an ihrer Zimmertür, um uns zu signalisieren, was für Maßnahmen wir vor Betreten des Zimmers ergreifen mussten. Bei der ersten Kategorie mussten wir unsere Hände mit Desinfektionsmittel reinigen. Bei der zweiten mussten wir unsere Hände in Desinfektionsmittel baden, Gummihandschuhe anziehen und zusätzlich einen langärmligen Kittel über unseren Kleidern anlegen. Die dritte Stufe, Kontaktisolation, bedeutete Desinfektionsmittel, Handschuhe, Kittel und eine Gesichtsmaske mit einem Sichtfenster, durch die man den Atem nur noch als dumpfes Brausen hörte. Erinnerte ein wenig an Darth Vader. Diese Zimmer hatten außerdem eine Luftschleuse zwischen Krankenhausflur und Zimmer, in dem ein spezielles Belüftungssystem dafür sorgte, dass keine Infektionen über die Luft übertragen wurden. Man musste sorgfältig darauf achten, die eine Tür komplett zu schließen, bevor man die andere aufmachte. Sobald man das Zimmer wieder verlassen hatte, spielte sich der ganze Film rückwärts ab: Man zog die Handschuhe aus und warf sie mit der Maske in den Müll, schmiss den Kittel in einen Wäschekorb und desinfizierte sich die Hände noch einmal. Dann ging es weiter zum nächsten Zimmer und so weiter. Insgesamt waren es sechzig Zimmer.
Als wir wieder in dem Zimmer standen, in dem wir unsere Milchshakes mixten, schüttelte ich ungläubig den Kopf. »Ist es nicht ein bisschen verrückt, das Immunsystem eines Menschen für einen Milchshake solchen Gefahren auszusetzen?«
Becca zog sich ein Paar Gummihandschuhe über. »Die Patienten profitieren in zweierlei Hinsicht davon. Zum einen brauchen sie die Kalorien, und außerdem baut es sie psychisch ein bisschen auf. Unterschätz die Wirkung eines Milchshakes nicht.« Sie drückte mir den Shaker in die Hand. »Und, wie fandest du’s bis jetzt?«
»Es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe.« Was hatte ich erwartet? Filmreifen Krebs? Jeder Patient bleich und kahl, umgeben von Familienmitgliedern, die sich aus Solidarität eine Glatze geschoren hatten? »Die meisten sehen so … normal aus. Bei manchen hätte ich gar nicht gemerkt, dass sie krank sind.«
»Kahl werden sie durch die Behandlung, nicht durch den Krebs«, rief Becca über das Dröhnen des Shakers hinweg. »Die Chemotherapie tötet alle Zellen – nur dass gesunde Zellen sich schneller regenerieren als Krebszellen. Sie tötet den Krebs also etwas schneller als dich.«
Am Abend warf ich meine gewohnten fünf Tabletten ein und ging schlafen. Meine Lieblingsmarke, die mich immer im Handumdrehen ausschaltete, war mir ausgegangen. Die anderen brauchten eine Weile, bis sie wirkten, und verursachten manchmal Halluzinationen oder kurzfristigen Gedächtnisausfall. Manchmal nahm ich sie und hatte fünf Minuten später vergessen, ob ich sie geschluckt hatte. Dann musste ich die ganze Flasche ausleeren, die Tabletten zählen und anhand des Datums auf dem Aufkleber nachrechnen.
Heute Abend waren es nur Halluzinationen. Ich merkte es an meinen Kuscheltieren, die plötzlich zum Leben erwachten. Ihre Gliedmaßen bewegten sich, als versuchten sie, die beste Schlafposition zu finden. Als mir das zum ersten Mal passierte, war ich gerade im Bad, um vor dem Schlafengehen noch einmal zu pinkeln, als mein Blick auf die Ausgabe der Us Weekly fiel, die am Boden lag. Die Stars auf den Fotos winkten mir zu. Ich war sicher, dass ich mir das nur eingebildet hatte, und ging ins Bett. Auf einmal erstarrte ich. Es sah aus, als würde sich jemand unter meiner Decke verstecken und sich durch seinen Atem verraten – ich konnte richtig sehen, wie sich die Decke hob und senkte. Ich riss die Decke zurück, aber da war natürlich nichts.
Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt. Ich drehte mich einfach um, damit ich die Kuscheltiere nicht mehr
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