Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)

Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)

Titel: Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noelle Hancock
Vom Netzwerk:
hielt den Daumen waagrecht. Was sollte das bedeuten? Sie versuchte, ein Wort mit den Lippen zu bilden, aber ich verstand nicht.
    »Äh … willst du lieber Vanille?«
    Wieder der waagrechte Daumen. Da dämmerte es mir: »Willst du halbe-halbe?«
    Glücklich nickte sie und hielt beide Daumen hoch.
    Manchmal sang jemand. Einmal kam der Gesang aus dem Zimmer einer abgemagerten Frau Mitte vierzig, die immer einen grellbunten Schal auf dem Kopf trug. Als ich vorher bei ihr reingeschaut hatte, war sie bewusstlos gewesen und merkte gar nicht, wie ihre Lieben ihr abwechselnd die Hand hielten. Jetzt hatte jemand eine Gitarre herausgeholt, und Fetzen von »Qué será, será« drangen auf den Flur. Ich lehnte mich ein paar Minuten neben der Tür an die Wand und hörte zu. Wenn ich solche ergreifenden Momente miterlebte, fühlte ich mich privilegiert, hatte aber immer auch das Gefühl, die privatesten Augenblicke anderer Leute zu belauschen. Dann kam Becca vorbei und flüsterte genau das, was ich mir gerade dachte: »Klingt wie ein Schwanengesang.«
    Am Ende des Flurs lag Mr. Orth, der inzwischen einer meiner Lieblingspatienten geworden war. Der ehemalige Steuerberater war etwas über sechzig, wurde langsam kahl (soll heißen, er bekam einfach eine Glatze, ohne Chemo) und flirtete schamlos mit mir. Als ich die Tür öffnete, um ihm seinen Milchshake zu bringen, plauderte er gerade auf seinem Handy, winkte mich jedoch herein.
    »Ist nur mein Bruder«, sagte er, während er mit der Hand den unteren Teil des Telefons abdeckte. Dann schaltete er auf Lautsprecher und stellte das Handy auf den Tisch, damit er seinen Strohhalm auspacken konnte. »Bleib dran«, sagte er, »ich hab hier gerade eine Schwester im Zimmer.«
    »Und, sieht sie heiß aus?«, fragte die Stimme aus dem Telefon. Seinem Bruder war offensichtlich nicht klar, dass er auf Lautsprecher gestellt war.
    »Kommt ganz drauf an«, rief ich, »wie stark behaart Sie Ihre Frauen mögen. Wenn Sie Richtung Chewbacca tendieren, müsste ich genau Ihr Fall sein.«
    Mr. Orth johlte vergnügt und fragte: »Sag mal, Candy, bist du eigentlich verheiratet?«
    Instinktiv hätte ich beinahe ausgerufen: Sind Sie verrückt? Ich bin doch noch nicht alt genug zum Heiraten! Natürlich war ich das. Trotzdem schien mir die Frage noch genauso absurd wie damals als Kind, als mir der Schulfotograf diese Frage gestellt hatte, damit ich fürs Foto lachte.
    »Warum?«, konterte ich. »Erhoffen Sie sich Steuervergünstigungen?«
    »Haben Sie denn ein weißes Kleid?«, bohrte Mr. Orth weiter.
    Ich blickte an mir herunter: lange Hose und Freiwilligenkittel. »Im Moment hab ich sicher keines an.«
    »Wie wär’s, wenn Sie sich schnell eins besorgen, ich schmeiß mich in einen Anzug, und dann brennen wir durch und heiraten?«, schlug er zwinkernd vor. Ganz ehrlich, wäre er nicht schon verheiratet gewesen, wäre das einer der süßesten Anträge gewesen, den sich ein Mädchen nur wünschen konnte.
    Ich stemmte die Hände in die Hüften und deutete mit einem Nicken auf seinen Krankenhauskittel. »Hey, Sie haben doch schon ein Kleidchen an. Warum zieh ich nicht einfach den Anzug an?«
    In der kurzen Pause, die daraufhin entstand, befürchtete ich schon, zu weit gegangen zu sein, aber dann prustete Mr. Orth los, und sein Bruder ebenso.
    Anschließend besuchte ich den über achtzig Jahre alten Mr. Weiderstein, der von seinen sechs lärmenden Kindern umgeben war.
    »Kommen Sie rein! Kommen Sie rein!«, krähte sein Sohn, ein untersetzter, etwas über fünfzig Jahre alter Mann mit Bart. So, wie sie sich aufführten, hätte man meinen können, dass sie sich zu einer Dinnerparty zusammengefunden hätten. Dabei war ihr Vater bettlägerig und brachte nur ein Keuchen hervor, wenn er sprechen wollte. Bei Mr. W. war für den nächsten Tag eine Gehirn- OP angesetzt, aber bis Mitternacht durfte er noch feste Nahrung zu sich nehmen.
    »Bringen Sie ihm einen großen Vanilleshake«, sagte sein Sohn und zwinkerte mir zu. »Klotzen, nicht kleckern, das ist unser Motto!«
    »Das gefällt mir!« Anerkennend nickte ich Mr. Weiderstein zu und kritzelte die Bestellung auf meinen Block. Als ich das Zimmer verließ, winkten mir alle vergnügt zu.
    Wenige Minuten später stand ich im Flur neben einem Rollwagen und versuchte gerade, meine Gummihandschuhe auszuziehen, als der Sohn langsam an mir vorbeiging.
    »Oh, ich wollte Sie noch fragen, welche von den Krankenschwestern für Ihren Vater zuständig ist«, sprach ich ihn an.
    Er

Weitere Kostenlose Bücher