Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
anschauen musste. Ich setzte eine Schlafbrille auf, damit ich nicht sah, wie sich die Schatten im Zimmer bewegten. Die gruseligste Nebenwirkung dieser Tabletten war zweifellos das Gefühl, dass andere Leute im Raum waren. Einmal unterhielt ich mich mit einem Freund, der dieselben Tabletten nahm, und als ich von dem Moment sprach, »in dem die anderen Leute kommen«, sah ich seiner Miene deutlich an, dass er wusste, wovon ich sprach. Manchmal redeten sie mit einem und schienen so real, dass man tatsächlich antwortete. Und das Komische daran war, dass es einem in dem Moment eben überhaupt nicht komisch vorkam. Ich hatte mein Leben lang Angst davor gehabt, dass nachts jemand bei mir einbrechen könnte. Jetzt fühlte es sich für mich tatsächlich so an, als sei jemand in meinem Zimmer, aber ich hatte keine Angst. Und das machte mir nun wirklich Sorgen.
Wonach sich die Patienten noch viel mehr sehnten als nach den Milchshakes, war Normalität. Die meisten ihrer zwischenmenschlichen Kontakte hatten irgendwie mit ihrer Krankheit zu tun. Also verhielt ich mich, als wären wir nicht im Krankenhaus, sondern in einem Restaurant, wo ich ihre Dessertbestellung aufnahm. Wenn der Patient in guter Verfassung schien, spielte ich die Rolle der kessen Kellnerin. Und ich wartete geduldig, wenn sie über die Geschmacksrichtung nachdachten – schließlich war der Milchshake das Leckerste, was sie die ganze Woche zu essen bekamen, also nahmen sie diese Entscheidung sehr ernst.
»Was würden Sie empfehlen – Vanille oder Schokolade? Oder sollte ich halbe-halbe nehmen? Ich weiß einfach nicht!«
Ich beugte mich vor und flüsterte mit Verschwörermiene: »Mal ganz ehrlich – wir wissen doch alle, dass Schokolade die einzig richtige Wahl ist, oder?« Oder ich meinte: »Tun Sie doch mal was richtig Ausgeflipptes und machen Sie halbe-halbe.« Wenn Sie nach Erdbeer fragten, protestierte ich aufs Energischste: » Erdbeer? Erdbeer haben wir nicht. Sind Sie von der Bio-Fraktion, oder was? Wenn Sie Obst wollen, können Sie die Pflegerin fragen. Also, jetzt mal ganz im Ernst – welchen Geschmack soll Ihr Milchshake haben?« Darauf fuhren sie ab.
Wenn ich daran dachte, was Eleanor bei ihren Besuchen bei verwundeten Soldaten im Zweiten Weltkrieg alles tat, wurde ich jedoch ganz kleinlaut. Zum Beispiel quetschte sie ihren achtundfünfzigjährigen Körper in einen kleinen Bomberflieger, der dafür bekannt war, dass er leicht in Brand geriet, und legte darin 37 000 Kilometer zurück, nach Australien, Neuseeland und zu siebzehn Inseln im Südpazifik. Diese fünfwöchige Reise war eine Strapaze, bei der sie fünfzehn Kilo verlor. Ihre Gegner taten ihre Reise als Publicity-Feldzug ab und kritisierten sie, weil sie auf Staatskosten um die Welt flog. Doch sie arbeitete unermüdlich weiter von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, fuhr Hunderte von Meilen zwischen Krankenhäusern und Lagern hin und her und besuchte mehr als 400 000 Truppenmitglieder. Sie ging durch zahllose Krankenhäuser, blieb an jedem Bett in jeder Station stehen und unterhielt sich ausführlich mit den Verwundeten. Manchmal waren deren Verletzungen so schwer, dass Eleanor sich zusammenreißen musste, um nicht vor den Patienten zurückzuweichen.
Ich lernte auch, mich zusammenzureißen, bevor ich die Krankenzimmer betrat. Manche Patienten waren entsetzlich dünn. Manchmal fehlten ihnen ganze Gliedmaße. Einem Mann hatte man sämtliche Zehen amputieren müssen. Als ich ihm seinen Milchshake brachte, schlief er, und sein Bein war auf einem Kissen hochgelagert. Der Fuß sah so anonym aus wie ein Kopf ohne Gesicht. Der Charakter eines Fußes liegt ganz in seinen Zehen, stellte ich fest.
Einmal kam ich ins Zimmer einer meiner Stammkundinnen. »Hey, Doris! Na, wonach ist dir heute – Schoko oder Vanille?«, schmetterte ich, doch ich bekam nur ein pfeifendes Geräusch zur Antwort. Als ich aufblickte, sah ich, dass sie ein Loch in der Kehle hatte, aus dem ein Röhrchen ragte. Man hatte einen Luftröhrenschnitt bei ihr durchführen müssen, und jetzt konnte sie nicht sprechen. Ich überlegte kurz. Zettel und Stift kamen nicht in Frage, denn die Infektionsgefahr war zu groß.
Also versuchte ich, meiner Stimme einen warmen und unaufgeregten Ton zu geben, und sagte: »Okay, Doris, dann spielen wir doch ›Daumen hoch, Daumen runter‹, einverstanden? Daumen hoch, wenn die Antwort Ja lautet, Daumen runter für Nein. Also, möchtest du einen Milchshake?«
Daumen hoch.
»Schokolade?«
Sie
Weitere Kostenlose Bücher