Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
schenkte mir nur einen gereizten Blick und erwiderte kurz angebunden: »Keine Ahnung. Steht doch sicher auf dem Dienstplan.« Ich war leicht gekränkt und wandte mich ab. Wenig später hörte ich tiefes Schluchzen. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn gebeugt an der Wand lehnen, während ihm die Tränen übers Gesicht strömten.
»Oh Gott«, wimmerte er, »oh mein Gott.«
Oh Gott. Sollte ich etwas sagen? Das Krankenhaus hatte keine offizielle Regelung für solche Situationen, so etwas musste man je nach Situation selbst entscheiden. Als er eben mit mir gesprochen hatte, hatte es so ausgesehen, als wollte er in Ruhe gelassen werden. Also machte ich meinen Wagen fertig und ging leise davon. Bevor ich um die Ecke bog, blickte ich mich noch einmal um und sah, dass seine Schwester jetzt bei ihm war und ihn von der Seite in den Arm nahm. Während ich weiterging, verfolgte mich sein Stöhnen durch den Flur.
In ihren vierzehn Jahren als First Lady bekam Eleanor ungefähr 175.000 Briefe im Jahr. Einer dieser Briefe war von einer bettelarmen jungen Frau namens Bertha Brodsky, die sich mit einer Wirbelsäulenverkrümmung für ihre schiefe Handschrift entschuldigte. Eleanor suchte einen Spezialisten für Bertha, sorgte dafür, dass sie operiert wurde, besuchte sie im Krankenhaus und schickte ihr zu den Feiertagen Geschenke. Nachdem Bertha sich erholt hatte, half Eleanor ihr dabei, eine Arbeit zu finden, kam zu ihrer Hochzeit und wurde Patin ihres Kindes. Wenn diese Frau eines war, dann gründlich. Ich hatte auf ähnliche Geschichten für mich gehofft. Doch da ich den Patienten einfach nur ein Dessert servierte, hatte ich nicht unbedingt das Gefühl, Großes zu bewirken. Manchmal kam es mir eher so vor, als würde ich die Dinge nur schlimmer machen. Und diese Momente blieben mir am meisten im Gedächtnis.
Eines Tages nahm ich die Milchshake-Bestellung einer Patientin auf, und ihre Zimmernachbarin, eine Diabetikerin, hörte mit.
»Darf ich auch einen haben?«, fragte ihre flehende Stimme.
Ich ging auf die andere Seite des Vorhangs, der die beiden Betten voneinander trennte. Eine Asiatin Mitte vierzig sah mich bittend an. »Tut mir leid, aber Ihr Blutzucker ist diese Woche zu hoch«, sagte ich sanft. »Ich darf Ihnen keinen geben.«
»Ach bitte! Ich erzähl es auch niemandem.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie krank man sein muss, dass man bereit ist, sich noch kränker zu machen, nur um einmal eine kurze Erleichterung zu bekommen. »Es tut mir leid, aber das kann ich nicht.«
Sie brach in Tränen aus. »Sie verstehen das nicht!«, schluchzte sie und verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich hatte so einen grauenvollen Tag.«
Ich bin ein Monster , dachte ich.
Becca und ich fuhren wie immer gemeinsam mit der U-Bahn nach Hause. Als wir bei ihrer Station waren, stieg sie aus und rief: »Bis nächste Woche dann!« Ich griff in meinen Rucksack und holte die New York Times heraus. An der nächsten Station stieg eine Gruppe Jugendlicher zu, die sich so lautstark unterhielten, dass ich von meiner Zeitung aufblickte. Sie trugen alle eine Art Schuluniform, aber zwei von den Jungs hatten ein Baseballkäppi auf. Die Mädchen hatten den Bund ihrer karierten Röcke mehrmals umgeschlagen, sodass der Rocksaum in schwindelerregende Höhen gerutscht war. Der andere Junge, der noch dabei war, trug zwar dieselben Sachen und hatte denselben Haarschnitt, aber irgendwie passte er nicht recht dazu. Ein Hauch von Verzweiflung umwehte ihn, eine Art Übereifer, den Teenager so besonders abstoßend finden. Als er sich zu den anderen setzen wollte, legte einer von den Baseball-Bubis das ausgestreckte Bein auf die freien Sitze.
»Hey, hat irgendjemand gesagt, dass du dich zu uns setzen darfst, du Opfer?«, höhnte er.
Der Junge sackte sichtlich in sich zusammen und suchte sich einen anderen Sitzplatz, mir schräg gegenüber. Er starrte angestrengt auf die Werbung über meiner Schulter und kämpfte mit den Tränen.
Es gilt als ungeschriebenes Gesetz unter New Yorkern, dass man Leute, die man nicht kennt, nicht in der U-Bahn anspricht. Aber irgendetwas an diesem Jungen brach mir das Herz. Ich hätte am liebsten eine Zeitmaschine gebaut, um ihm zu zeigen, dass es ihm in ein paar Jahren völlig egal sein würde, was diese Idioten über ihn dachten. Außerdem quälte ich mich immer noch mit der Frage herum, ob ich bei Mr. Weidensteins Sohn die richtige Entscheidung getroffen hatte, und ich wollte es nicht hinterher bereuen, dass ich nichts zu diesem
Weitere Kostenlose Bücher