Wer nichts weiß, muss alles glauben (German Edition)
Unter freiem Willen versteht man, dass man sich zwischen zwei oder mehreren Alternativen entscheiden kann, ohne äußere Einflüsse und ohne Berücksichtigung der persönlichen Vergangenheit. Bei reflexartigem Verhalten – das Gegenteil von willensfreien Entscheidungen – gibt es eine einfache actio est reactio . Unter exakt denselben Umständen gibt es immer wieder dieselbe Entscheidung.
Das funktioniert aber nur für sehr begrenzte Verhaltensweisen, denn sobald auch die absehbaren Auswirkungen mitberücksichtigt werden, ergeben sich komplexere Strukturen.
Treffen wir Entscheidungen, sind diese Entscheidungen oftmals konkurrierend, also ausschließend – wir können uns nur für eines entscheiden. Die Möglichkeiten oder auch Wünsche können nun gewichtet sein – sie werden danach bewertet, wie gut oder schlecht sie für uns sind. Dies geschieht aufgrund von bisher gemachten Erfahrungen, also direkt aus unseren Erinnerungen, und einer Abschätzung für die Zukunft.
In einer konkreten Situation gibt es für eine Person nur eine Möglichkeit, sich zu entscheiden. Aufgrund der Komplexität der Umstände, die zur Willensbildung führen, ist die Entscheidung zwar nicht vorhersehbar, aber objektiv steht sie schon im Vorhinein fest. Durch das Überlegen – Gewichten – der Möglichkeiten wird ein bestimmter Wunsch zum Willen. Dieser Wille wird dann in eine entsprechende Handlung umgesetzt.
Das Problem besteht nun darin, dass es zu dem tatsächlichen Wollen eigentlich keine Alternative gibt – also ist man nicht frei, und der Begriff Freiheit ist irreführend. Wäre der Wille wirklich frei, würde er dem Zufall unterliegen. Stellen wir uns eine Welt vor, in der Entscheidungen rein nach dem Zufall getroffen werden – wir könnten andere Personen nicht mehr einschätzen und wären ziemlich verwirrt.
So weit, so gut, aber woher kam dann in den letzten Jahren die Aufregung rund um den freien Willen? Kommt gleich, nur Geduld. Wenn Sie zu aufgeregt sind, können Sie von mir aus die nächste Seite auch wieder herausreißen. Sie müssen aber nicht.
Liebe Leserin! Lieber Leser!
Hier spricht die Seite 97. Bitte reißen Sie mich nicht heraus, ich möchte noch in diesem Buch bleiben, mir gefällt es hier. Ich habe Ihnen gar nichts getan. Wenn Sie mich rausreißen, ist das voll unfair. Wenn Sie das tun, kann ich für nichts garantieren, und das wollen Sie sicher nicht.
Nach Meinung der Neurowissenschaft ist es so, dass wir keinen freien Willen haben. Eine Entscheidung wird unbewusst getroffen, der Prozess der Entscheidungsfindung gelangt ins Bewusstsein und erscheint dann als freier Wille. Das Bewusstsein hat aber noch die Möglichkeit, quasi ein Veto einzulegen.
Damit stellt sich die Frage, was ist bewusst und was unbewusst. Dazu muss ich ein wenig ausholen. Wer noch nicht am Klo war, soll bitte jetzt noch schnell gehen, danach geht es länger nicht mehr.
Also.
Es gibt im Gehirn verschiedene Areale:
– primäre sensorische Areale; je eines für das Sehen, das Hören und Tasten
– sekundäre sensorische Areale; mehrere für das Sehen und das Hören
– ein primäres motorisches Areal, über das einzelne Muskeln gesteuert werden
– ein sekundäres motorisches Areal, das für komplexes motorisches Verhalten zuständig ist
Abb. 10: Die sensorischen und motorischen Areale.
und drei tertiäre Areale:
– das PTO-Areal (von: parietal-temporal-okzipital), das für die Gegenwart zuständig ist; es beschäftigt sich ausschließlich mit dem Hier und Jetzt
– den limbischen Schläfenlappen; er ist für die Vergangenheit zuständig und stellt den Speicher für unsere Erinnerungen dar
– den präfrontalen Cortex, in dem wir uns Gedanken über die Zukunft machen
Abb. 11: Die drei tertiären Areale.
Aber was sind eigentlich unbewusste Entscheidungen?
Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen roten, runden Ball auf Sie zufliegen. Für diese Wahrnehmung sind das primäre und sekundäre sensorische Areal zuständig. Dann gelangt die Information in die anderen Gehirnareale. Vorrangig gelangen die Signale in das sekundäre motorische Areal und dort wird dann die Entscheidung getroffen: ducken oder fangen. Das primäre motorische Areal setzt das dann um.
Abb. 12: Ablauf eines unbewussten Verhaltens, zum Beispiel wenn wir vor einer Ampel stehen und eine Entscheidung treffen, entweder zu gehen oder stehen zu bleiben. Wie zu sehen ist, sind die tertiären Areale nicht aktiviert, dort werden keine
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