Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
Gesicht auf. Sie brachte sich kurz in Erinnerung, entschuldigte sich für die späte Stunde und fragte nach dem Stand der Bauarbeiten. Kommenden Herbst sollten die Außenanlagen der Gedenkstätte eröffnet werden. Nach einem jahrzehntelangen Ringen um öffentliche Gelder war die Gedenkstätte jetzt in der Lage, unter dem Stichwort »Erinnerungslandschaft« den Todesstreifen an der Bernauer Straße als Gedenkstätte aufzubereiten. Der Sender war häufig mit dem Ü-Wagen vor Ort gewesen und hatte den Fortgang der Arbeiten verfolgt. Natürlich wusste auch Emma das. Aber sie fragte sich, ob sie je in der Lage sein würde, so elegant wie Bente zum eigentlichen Grund ihres Anrufes hinleiten zu können. Immer fiel sie gleich mit der Tür ins Haus. Bente dagegen schaffte es, dass sich die Gesprächspartner respektiert fühlten, dass sie mehr für sie waren als reine Informanten. Bente wies auf den Hörer.
»Willst du selbst mit ihm reden?«
Emma nickte, formte lautlos ein Danke und übernahm das Gespräch, das Bente auf ihr Telefon umstellte.
»Guten Abend, Herr Hufke, mein Name ist Emma Vonderwehr. Ich war schon oft in dem Ü-Wagen vor Ort an Ihrer Gedenkstätte, mittlerweile sollten doch auch die Stäbe draußen stehen, oder? Im Frühling war doch noch …«
»Frau Vonderwehr, es ist schon ziemlich spät. Ihre Kollegin sagte, Sie recherchieren über jugendliche Neonazis in der DDR ?«
Emma gab es auf. Sie war keine Diplomatin.
»Genau gesagt geht es mir um den Überfall in der Zionskirche. 1987. Element of Crime spielte. Eine Gruppe von Neonazis griff die Besucher an.«
»Ich weiß. Ich war dabei.«
»Was?« Emma schrie so laut vor Überraschung, dass Bente sie erschreckt ansah. Emma griff mit beiden Händen nach dem Hörer und sagte:
»Wie wunderbar. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen.«
»Ich wurde an dem Abend recht früh aus dem Verkehr gezogen.«
»Bitte, erzählen Sie mir davon, Herr Hufke.«
»Ich war damals Student und ging oft in die Griebenowstraße. Dort stand das Gemeindehaus der Zionskirche. Pfarrer Simon hatte uns zwei Kellerräume überlassen. Da bauten wir dann die Umweltbibliothek auf. Unter dem Dach gab es dann später Ausstellungen und Konzerte.«
»Warum gab es ausgerechnet an diesem Abend im Oktober so einen Überfall?«
Der Mann am Telefon lachte auf, es klang nicht lustig. Er sprach abgehackt, als wühle ihn die Erinnerung noch einmal auf.
»Die Frage war schon eher, warum es bisher gut gegangen war. Die meisten Gemeindemitglieder wollten uns am liebsten davonjagen. Die Stasi hatte uns im Visier. Sie hat jeden von uns einzeln bearbeitet. Pfarrer Simons Tochter wohnte im Westen. Sie durfte ihn dann nicht mehr besuchen.«
Emma sagte nichts. Der Mann holte tief Luft und redete weiter.
»Ich stand an der Jackenausgabe, deshalb habe ich erst gar nichts mitbekommen. Die Band war schon weg. Sie sind durch die Sakristei und dann im Bus wieder über die Mauer. Draußen wurde es immer lauter, und ich lief hin. Ich sah, wie sie einer Freundin von mir auf die Brust schlugen. Ich wollte zu ihr laufen – dann bin ich wieder im Krankenhaus aufgewacht. Jemand hatte mir von hinten eins übergezogen.«
Emma sagte leise:
»Ich hab in dem Zusammenhang von vier Verurteilungen gelesen. Busse, Brand, Ewert und Brezinski. Gab es noch mehr?«
»Nein, nicht bei dem Prozess. Später gab es noch einige Verfahren gegen Skinheads und Neonazis.«
»Im Zusammenhang mit diesem Vorfall?«
»Ja. Die Sache sorgte mächtig für Wirbel, auch im Ausland. Für die SED -Führung war das ein großer Imageverlust.«
Der Mann räusperte sich und trank etwas. Emma klopfte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch, aber sie schwieg und wartete ab.
»Rowdys hieß das damals offiziell, also auf Rowdys wurde richtig Jagd gemacht. Ob links oder rechts, das spielte irgendwann keine Rolle mehr. Es gab viele Verhöre. Ein paar nannten Namen, um die eigene Haut zu retten. Die Szene sollte zerrieben werden, aber im Grund ging sie nur tiefer in den Untergrund.«
Hufke seufzte. Dann sagte er:
»Wir von der Gemeinde versuchten alles zu dokumentieren. Ein paar schafften es immer, bei den Prozessen dabei zu sein. Leute sind von der Straße weg verhaftet worden, weil der Haarschnitt verdächtig war. Schräge Zeiten waren das.«
Emma meinte:
»Herr Hufke, diese Aufzeichnungen …«
»Umweltblätter hießen die. Wir haben tagsüber geschrieben und nachts gedruckt.« Hufke lachte. »Heute klingt das vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher