Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
explodieren lassen. Wenn einer davon seinen Eltern erzählt hätte, dann wäre sie vermutlich von der Schule geflogen. Fast hatte sie es gehofft, aber alle hatten dichtgehalten. Und bald galt sie als coolste Lehrerin der Schule.
Sie suchte ihr altes Handy heraus und baute es auseinander. Mit ihrem kleinen Lötkolben fügte sie zwei Kabel an die Strompole und umwickelte das Ganze mit festem silbernem Panzerband. Die Kabel ragten heraus, und sie befreite sie von der Plastikummantelung. Die kleinen silbernen Drähte kitzelten ihre Fingerkuppen. Sie steckte einen davon unter ihren Daumennagel. Der Schmerz kam in Wellen zu ihr.
Lukas hatte ihrem Vater gefallen. Der Stolz für das Volk, die Wut des Nichtgeliebten, die Scham und der Schmerz. Auch wenn die Gründe andere gewesen waren, so blieben die Gefühle doch immer die gleichen. Aber Marlon war anders gewesen. Nicht so voller Wut. Dabei hatte er es nicht leicht gehabt. Für ihn gab es Hoffnung, eine neue Welt woanders, er hatte so große Pläne gehabt. Dieser Junge hatte alles in Frage gestellt und sie dazu gebracht, die Dinge neu zu sehen. Er hatte es geschafft, dass sie sich wieder selbst spüren konnte. Und jetzt?
Die Lehrerin schob den Draht noch ein kleines biss chen weiter unter ihren Nagel. Sie würde immun gegen den Schmerz werden, denn die Süße der Rache betäubte alles.
Sie fühlte sich unverwundbar.
Berlin, Mitte
I n der Letzten Instanz war jetzt, kurz vor acht Uhr, jeder Tisch besetzt. Es roch nach feuchten Mänteln und dem Tagesgericht Kalbsleber. Emma drehte sich der Magen um. Sie hatte Innereien noch nie ausstehen können. In den dunklen Eichenregalen standen reich verzierte Bierkrüge, und ein Schild am Kamin pries die Gaststube als das älteste Gasthaus in Berlin. Emma sah durch den Raum, konnte Weiß aber nirgends sehen. Die Tür zur Küche schwang auf, und ein Kellner im Frack rannte mit vollen Tellern und weiteren Geruchsschwaden an ihr vorbei. Emma entdeckte im hinteren Teil eine schmiedeeiserne Wendeltreppe und stieg sie schnell hoch.
Oben war es etwas ruhiger und dank eines gekippten Fensters zwar kalt, aber geruchsärmer. Weiß saß an einem kleinen Holztisch. An der Wand hinter ihm hing ein auf alt getrimmtes Blechschild der Schultheiß-Brauerei. Vor ihm standen ein Glas Bier und ein Holzbrett mit Brot, Schmalz, Gürkchen und Aufschnitt. Als Emma zu ihm trat, hellten sich die Augen des Anwalts auf, und er lächelte.
»Frau Emma, wie schön. Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese Berliner Folklore antun muss, aber ich habe gleich noch weitere Termine, und dies ist der einzige Ort, wo ich hier in der Gegend auf die Schnelle was Vernünftiges zu essen bekomme.«
Emma nickte, setzte sich zu ihm an den Tisch und lächelte.
»Haben Sie denn niemals Feierabend?«
»Doch, oder besser gesagt, die Arbeit, mit der ich mein Geld verdiene, ist für heute vorbei. Haben Sie Hunger?«
Emma hatte einen begehrlichen Blick auf das Brett vor ihm geworfen. Eben noch hatte sie gedacht, sie könne hier keinen Bissen herunterbekommen, hier oben fing ihr Magen wieder an zu knurren.
»Bitte, nehmen Sie nur, das ist sowieso zu viel für mich allein.«
Er schob ihr den Brotkorb zu und sagte:
»Dienstagabends berate ich Gruppen oder auch einzelne Bürger, die sich juristisch gegen Naziattacken wehren wollen.«
Emma nahm ein Brot und legte sich ein Stück Schinken darauf.
»Und, hat das eine Chance?«
»Manchmal schon. Aber es verlangt auch viel. Zeit, Nerven, manchmal auch Geld. Und man darf keine Angst vor denen haben.«
Emma dachte an den Eintrag im Blog, der zur Gewalt gegen sie aufgerufen hatte.
»Haben Sie denn niemals Angst?«
»Ich?« Weiß lachte. »Ich bin lieber wütend.«
Er trank einen Schluck von dem Bier, und eine Spur weißen Schaums blieb für einen Moment an seiner Oberlippe hängen. Emma hätte ihn gern weggewischt. Stattdessen machte sie ihn darauf aufmerksam, und er fuhr sich mit der Zunge darüber. Emma holte den Ausdruck der Blogattacke aus ihrer Tasche. Weiß nahm ihr den Zettel ab. Er griff nach einem Brot und kaute, während er das Papier durchlas. Dann sah er mit besorgtem Gesichtsausdruck zu Emma und sagte:
»So einen Eintrag im Netz juristisch zu verfolgen ist sehr schwer. Wir könnten allerdings den Administrator auffordern, den Eintrag zu löschen.«
»Könnten Sie das für mich tun?«
»Für Sie, Frau Emma?« Er lächelte. »Natürlich. Aber machen Sie sich nicht allzu viel Hoffnungen.«
»Wieso?«
»Die User melden
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