Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
gewesen war.
»Herr Brinkmann, geht es Ihnen gut?«
Erschrocken hielt sie den Atem an. Wie gedankenlos von ihr, so etwas zu fragen.
»Ich meine, wollen Sie überhaupt mit mir reden? Ich kann verstehen, wenn Sie es sich anders überlegt haben.«
»Nein.«
Er setzte sich wieder und faltete die Hände wie zum Gebet.
»Ich bin froh, dass Sie hier sind. Mit jemandem darüber zu reden, das gibt mir das Gefühl, dass es wahr ist. Dass es wirklich passiert ist, meine ich.«
Emma schwieg und wartete ab. Nach einer Weile hob er den Kopf und wies mit dem Kinn auf das Mikrofon.
»Es ist nur – es ist ein bisschen wie bei einer Predigt, verstehen Sie? Einmal Gesagtes ist in der Welt und klingt in den Köpfen der Menschen anders als gemeint. Ich habe Angst …«
Er fuhr sich mit den Händen über den Bart.
»Dass mir nicht das Richtige einfällt.«
Er stockte und fügte dann leise hinzu:
»Angst, dass Sie es nicht verstehen.«
Emma sah ihn an. Sie legte ihre Hand auf das Aufnahmegerät.
»Wir reden einfach. Und wenn Sie etwas nicht richtig formuliert finden, dann wird es nicht gesendet. Das verspreche ich Ihnen. Okay?«
Der Mann nickte. Emma zog ihre Hand wieder weg und lehnte sich zurück an die hölzerne Lehne der Bank.
»Wie ist Ihr Sohn zu den Rechten gekommen, Herr Brinkmann?«
Der Pastor räusperte sich.
»Die Rechten haben um ihn geworben. Zu dem Zeitpunkt war er der beliebteste Junge hier, Gruppenratsvorsitzender seiner Schule.«
Er sah Emma an.
»Sie kommen aus dem Westen, oder? Bremen, sagten Sie?«
Emma nickte. Brinkmann lachte leise.
»Dann können Sie sich vermutlich nicht vorstellen, was das für eine Leistung war. Als Sohn eines Pastors der Verbindungsmann zur Patentbrigade, Lessing-Medaille, exzellente Kopfnoten. Margot Honecker hat ihn persönlich gelobt.«
»Ich nehme an, dafür reichte es nicht, Einsen zu schreiben, oder? Wie hat er das gemacht?«
Brinkmann schwieg. Emma beobachtete ihn. Er war ein anziehender Mann, ein Charakterkopf. Vermutlich gehörte er zu den Menschen, die im Alter besser aussahen. Seine Augen waren schmal und von einem warmen Braunton. Sein Mund war ungewöhnlich voll, die Stirn hoch. An seiner Schläfe pochte eine blaue Ader.
»Er hatte eine Begabung.«
Er sah hoch. Emma erschrak über seinen verzerrten Gesichtsausdruck. War das Trauer oder Hass?
»Er konnte unerbittlich an einer Sache festhalten. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er das durch – gegen alle Widerstände.«
Der Pastor schwieg. Dann fuhr er leise fort:
»Er schaffte es, alle zu manipulieren. Und von mir fortzutreiben.«
Der Pastor fuhr sich über das Gesicht.
»Ich hab ihm das Orgelspielen beigebracht, ihm und seinem besten Freund Thomas. Sie spielten im Duett wie ein Mensch mit vier Händen. Die alten Frauen kamen nur wegen der Jungs zur Messe.«
Emma lächelte, aber der Pastor verzog keine Miene. Nach einer Weile stand er wieder auf, zog den Vorhang zur Seite und starrte auf die dunkle Dorfstraße hinaus.
»Lukas wäre besser behindert gewesen wie Ihre Schwester.«
Emma hörte auf zu lächeln. Sie zog das Aufnahmegerät näher zu sich heran.
»Sie wissen nicht, wovon Sie reden.«
Der Pastor lachte bitter.
»Die Liebe kann ein Fluch sein, Frau Vonderwehr. Sie sind zu jung, um das zu verstehen.«
Sie sah zu ihm hoch.
»Was hat er Ihnen angetan?«
Brinkmann breitete die Arme aus.
»Sehen Sie sich um, Frau Reporterin. Sehen Sie sich die Kirche an. Ich bin allein. Mein Lebenswerk ist vertan. Ich haben keinen Menschen mehr an meiner Seite.«
Er sackte in sich zusammen und sagte leise: »Heute Morgen hat er mich noch angerufen. Er hat mich gewarnt.«
»Gewarnt? Wovor?«
»Ich sollte die Tür verriegeln. Wachsam sein.«
»Hat er Ihnen gesagt, vor wem Sie sich in Acht nehmen sollten?«
Der Pastor starrte vor sich hin, als sähe er sie nicht.
»Er hatte Angst um mich. Ich habe ihm immer noch etwas bedeutet.«
Emma starrte den alten Mann an und versuchte zu verstehen, was er sagte. »Was ist denn …«
Ein Geräusch von draußen ließ sie beide zusammenfahren. Der Pastor stand auf und trat ans Fenster. Einen Moment blieben beide still und lauschten. Dann ging er mit schnellem Schritt aus der Küche in den Flur. Emma stoppte das Aufnahmegerät, steckte es in die Tasche, schnappte sich Jacke und Tasche und folgte ihm.
Brinkmann riss die Haustür auf und ging auf die Kirche zu. Es dämmerte bereits und war noch kälter geworden. Jetzt hörte es auch Emma. Die
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