Wer ohne Liebe ist: Kriminalroman (German Edition)
Orgel gab holperige, langgezogene Töne von sich. Es klang wie ein schauriger Klagegesang.
Brinkmann ging durch die Tür und quer durchs Kirchenschiff zur Orgeltreppe. Er war so schnell, dass Emma ihm kaum folgen konnte.
»August!«
Brinkmanns Ruf hallte durch die kleine leere Kirche. Abrupt endete das Spiel. Jetzt stand der Pastor oben an der Treppe, Emma direkt hinter ihm. Sie sah einen vielleicht zehnjährigen Jungen auf der Bank an der Orgel sitzen. Seine Wangen brannten, er war nass von Tränen und Rotz.
Brinkmann trat zu ihm. Er holte sein Taschentuch aus der Cordhose und wischte dem Jungen über das Gesicht. Wie ein Kleinkind schnäuzte der in das Tuch. Er war blond, etwas dicklich und schlotterte am ganzen Körper. Vor Trauer oder Kälte, das war nicht auszumachen. Sein Polyesteranorak, die Jeans und Turnschuhe waren auf jeden Fall zu dünn für diese Temperaturen. Der Pastor schloss seinen Anorak am Hals und strich ihm mit etwas ruppigen, aber doch fürsorglichen Bewegungen über das Haar.
»Weiß deine Schwester, dass du hier bist?«
August zuckte mit den Schultern und versuchte, das Zittern seines Körpers unter Kontrolle zu bekommen.
»Stimmt es, Pastor? Lukas ist tot?«
Brinkmann nickte. Der Junge sah starr vor sich hin. Der Pastor wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, aber August wich zurück. Er sprang auf und rannte an Emma vorbei über den Orgelboden und die Treppe hinunter. Emma machte einen Schritt an die Brüstung und sah den Jungen aus der Kirche laufen. Sie drehte sich zum Pastor um.
»Wollen Sie nicht hinterher?«
Brinkmann hob den Kopf.
»August hat vor ein paar Wochen seinen Bruder Marlon verloren. Noch so ein früher Tod. Er hat ihn sehr geliebt.«
»Sie müssen ihm beistehen!«
»Wie soll ich ihn trösten, Frau Vonderwehr? Ich hab selber keinen Trost.«
»Aber Sie sind doch der Pastor!«
Er stand auf und sah sie wütend an.
»Fahren Sie zurück nach Berlin. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«
Er ging an ihr vorbei die Treppe hinunter und verschwand aus der Kirche. Emma beeilte sich diesmal nicht, ihm zu folgen. Als sie vor die Kirchentür trat, sah sie den Pastor durch das Fenster in der Küche. Mit einem energischen Ruck zog er den Vorhang zu.
Emma zog den Autoschlüssel aus der Tasche und ging langsam auf den alten Peugeot zu. Sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Berlin. Bentes ruhige Stimme hören, Eierreis bei ihrem Freund Khoy essen und Blumes Arm um ihre Schulter fühlen. Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, zögerte sie. Auf dem Festplatz probierten sie jetzt die Anlage aus. Emma hörte den tiefen Brummton der Lautsprecher, ein Mann lachte, ein zweiter rief etwas. Dann schallte Disko-Musik zu ihr rüber. Emma kämpfte einen Moment lang mit sich. Dann drehte sie den Schlüssel wieder um, zog ihre Tasche fest über die Schulter und ging schnell über den Anger zum Ausgang des Dorfes.
An der Ecke des Pfarrhauses duckte sich August hinter einer Zikadenhecke und sah ihr nach.
Das Bierzelt stand. Die weiße Plane am Eingang war zurückgeschlagen und gab den Blick frei auf eine lange Theke. Ein paar Männer stützten sich darauf und testeten das Bier, das jetzt frisch nach dem Fassanstich überschäumte. Eine Losbude, ein Schießstand und ein Imbisswagen standen mit heruntergeklapptem Visier im Schneematsch. Kinder jagten sich um die Wagen und lachten, voller Vorfreude auf das Fest. Aus den Lautsprechern dröhnte ein altmodisch klingender Schlager, den Emma noch nie gehört hatte. Sie streckte ihr Kinn und ging mit festen Schritten in das Bierzelt. Die Männer an der Theke drehten ihre Köpfe und starrten sie neugierig an. Sie warf einen Blick durch das Zelt. Weiter hinten wurden Tische und Sitzbänke auseinandergeklappt, ein paar Frauen wickelten Girlanden um die Zeltstangen. Ein Trupp junger Leute stand vor dem Campingtisch mit der Musikanlage, an die noch immer weitere Boxen angeschlossen wurden. Emma blieb mitten im Zelt vor einem älteren Mann mit einem von roten Äderchen durchnetzten Gesicht stehen. Sie musste schreien, um bei der lauten Musik gehört zu werden.
»Guten Abend!«
Der Mann glotzte sie an und sagte nichts. Ein jüngerer drängte sich zwischen den anderen durch, stellte sich vor Emma auf und grinste sie an.
»Tach, schöne Frau. Sind Sie vom Fernsehen?«
Na, der Autotausch hat sich ja gelohnt, dachte Emma. Der Mann vor ihr sah sie offen an, lieb und ein bisschen dümmlich wirkte er. Sie lächelte und schüttelte den
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