Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
der Westen weiter entwickelt ist als alle anderen Gebiete der Welt – lässt sich kein Zufallsereignis der jüngeren Vergangenheit als Antwort anführen, denn während 15 Jahrtausenden war der Westen 14 Jahrtausende lang der am weitesten entwickelte Teil der Erde. Auch das aber wurde nicht irgendwann in grauer Vorzeit festgeschrieben. Über 1000 Jahre lang, von etwa 550 bis 1775 unserer Zeitrechnung, hatten die asiatischen Gebiete die Nase vorn. Die Vormachtstellung des Westens wurde folglich weder vor Tausenden von Jahren determiniert, noch ist sie eine Folge jüngerer Zufallsereignisse.
Auch auf die zweite Frage, warum sich nämlich die gesellschaftliche Entwicklung im Westen verglichen mit früheren Gesellschaften so rasant vollzog, bietet keine der beiden Theorien allein eine Antwort. Wie wir noch sehen werden, begann der Westen erst um 1800 u. Z. gewaltig zu punkten; doch dieser Aufschwung war nur der jüngste Beleg für ein sehr langfristiges, stetiges Beschleunigungsmuster der gesellschaftlichen Entwicklung. Langfristige Determinierung und kurzfristige Zufallsereignisse wirken zusammen.
Aus diesem Grund ist es nicht möglich, die Vormachtstellung des Westens zu erklären, wenn wir uns nur mit der Vor- und Frühgeschichte oder nur mit den letzten zwei Jahrhunderten beschäftigen. Vielmehr müssen wir den gesamten Strom der Vergangenheit begreifen, um eine Antwort auf unsere Fragen zu finden. Doch auch wenn das Nachzeichnen der gesellschaftlichen Entwicklung mit allem ihrem Auf und Ab die Konturen der Geschichte offenbart und uns zeigt, was erklärt werden muss, liefert es
selbst
doch keine Erklärungen. Dafür müssen wir in die Details eintauchen.
Faulheit, Angst und Habgier
»Geschichte,
die
– meist falscher Bericht über meist unwichtige Ereignisse, die von meist kriminellen Herrschern und meist närrischen Soldaten bewirkt worden sein wollen.« 7 Manchmal fällt es schwer, Ambrose Bierces humoriger Definition zu widersprechen: Geschichte kann so sein, ein Ereignis, das auf das andere folgt, ein chaotischer Haufen von brillanten Köpfen und Narren, Tyrannen und Schwärmern, Dichtern und Dieben, die Außergewöhnliches vollbringen oder der Gipfel der Verderbtheit sind.
Und von solchen Gestalten wird es, wie könnte es anders sein, in diesem Buch wimmeln. Denn schließlich sind es keine gesichtslosen Massen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die in dieser Welt leben, sterben, schöpferisch sind und kämpfen. Doch hinter all dem »Schall und Wahn«, um hier William Faulkner zu paraphrasieren, verläuft die Geschichte nach zwingenden Mustern, und |35| mit den richtigen Instrumenten wird es Historikern gelingen, diese zu erkennen und sogar zu erklären.
Ich werde hier drei dieser Instrumente benutzen.
Zum einen ist das die Biologie 1* , die uns verrät, was Menschen in Wirklichkeit sind: schlaue Schimpansen. Wir Menschen gehören zum Tierreich, das seinerseits Teil der großen Welt des Lebendigen ist, die alles Leben vom Menschenaffen bis zur Amöbe umfasst. Aus dieser offensichtlichen Tatsache lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen.
Erstens entziehen wir, wie alle Lebensformen, unserer Umwelt Energie und verwandeln sie in weitere Exemplare unserer Art.
Zweitens sind wir, wie alle intelligenteren Tiere, neugierige Geschöpfe. Wir basteln ständig an Dingen herum, wollen wissen, ob sie essbar sind, ob wir mit ihnen spielen oder ob wir sie irgendwie verbessern können. Wir sind beim Herumbasteln nur besser als andere Tiere, weil wir ein großes, schnelles Gehirn mit vielen Windungen haben, um die Dinge zu bedenken, unendlich elastische Stimmbänder, um sie zu bereden, und opponierbare Daumen, um sie zu bearbeiten.
Davon abgesehen sind Menschen – genau wie andere Tiere – offenkundig nicht alle gleich. Manche entziehen der Umwelt mehr Energie als andere; manche vermehren sich stärker als andere; manche sind neugieriger, kreativer, klüger oder geschickter als andere. Aber die dritte Konsequenz aus unserem Tiersein besteht darin, dass große Menschengruppen im Gegensatz zu einzelnen Individuen alle ziemlich gleich
sind
. Wenn Sie aus einer Menge zwei beliebige Personen herauspicken, sind diese möglicherweise so gegensätzlich, wie man es sich nur vorstellen kann; wenn Sie sich aber zwei große Gruppen als Ganzes ansehen, werden sich diese im Allgemeinen sehr ähnlich sein. Und wenn Sie, wie ich es in diesem Buch tue, millionenköpfige Gruppen vergleichen, werden sie sich in ihrer
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