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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Einrichtungen im Gebäudeinnern und Garagen für ihre glänzenden Fords und VWs.
    Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter der Fülle, eines materiellen Überflusses, der die kühnsten Träume übertraf. Preisgünstige Kohle und billiges Öl generierten Elektrizität für alle, ließen auf Knopfdruck Maschinen laufen und Häuser beleuchten. Über 2000 Jahre zuvor hatte Aristoteles bemerkt, dass es immer Sklaven geben würde, es sei denn, die Menschen hätten
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– sich selbsttätig bewegende Maschinen –, die für sie die Arbeit erledigten. Nun wurde seine Fantasievorstellung wahr, und die elektrische Energie verschaffte selbst dem Niedrigsten unter uns Dutzende von Sklaven, die unser tägliches Verlangen nach Unterhaltung, Wärme und – insbesondere – Essen stillten.
    Diese Energierevolution verwandelte die Märchen des 16. Jahrhunderts von endlosen Festen in Realität. Zwischen 1500 und 1900 hatte sich der Weizenertrag im westlichen Kerngebiet dank eines optimierteren Ackerbaus, vermehrter Zugtiere und besseren Düngers ungefähr verdoppelt, aber dann stießen die Bauern an die Grenzen ihres Einfallsreichtums. Durch noch mehr Tiere ließ sich die Produktivität nur bis zu einem gewissen Grad steigern, und um 1900 wurde ein |518| Viertel des nordamerikanischen Ackerlands allein zum Füttern der Pferde benötigt. Dann kamen Benzin und Diesel zu Hilfe. Amerikas erste Traktorenfabrik öffnete 1905, und bis 1927 stellten Trecker auf amerikanischen Farmen ebenso viel Arbeitskraft bereit wie Pferde.
    [Bild vergrößern]
    Abbildung 10.9: Es ging uns noch nie so gut
    Der Autor und sein Spielzeug, Weihnachten 1964.
    Alles hat seine Schattenseiten. 1875 war es die Hälfte aller Amerikaner, die auf dem Feld arbeitete, doch ein Jahrhundert später nur noch einer von 50. Maschinen fraßen Menschen, der Traktor entvölkerte auf dem Land ganze Gemeinden, war es doch profitabler, den Boden mit ein paar angeheuerten Tagelöhnern und Dieselmaschinen zu bewirtschaften. »Stumpfnasige Ungeheuer, die den Staub durchwühlten und ihre Schnauzen hineinsteckten«, nannte der Schriftsteller John Steinbeck die Traktoren. »Sie durchzogen kreuz und quer das Land, kamen durch Zäune, durch Höfe und durch Gräben.« 53
    Steinbeck sah eine Revolution der Verdammten dieser Erde voraus, doch als die Flutwelle der Enteignung und Verarmung, die überschüssige Menschen aus dem Mittleren Westen ganz nach Westen und schwarze Baumwollpflücker nach Norden spülte, wieder abebbte, fanden die meisten Migranten in der Stadt eine Arbeit, die besser bezahlt war als die Plackerei in der Landwirtschaft, die sie hinter sich gelassen hatten. Die Agrogeschäftsleute, die sie vertrieben hatten, verkauften ihnen nun billige Nahrungsmittel und investierten die Gewinne in chemische Düngemittel und Herbizide, elektrische Pumpen zur Bewässerung trockener |519| Felder und schließlich genveränderte Feldfrüchte, die nahezu allen Umweltbedingungen trotzten. Bis zum Jahr 2000 schluckte jeder Hektar amerikanischen Farmlands achtzigmal mehr Energie als 100 Jahre zuvor und warf einen vierfach höheren Ertrag an Nahrungsmitteln ab.
    Wohin Amerika heute ging, dorthin folgte ihm morgen die Welt. Eine »grüne Revolution« vervierfachte zwischen 1950 und 2000 die Weltnahrungsmittelproduktion. Die Preise fielen stetig, Fleisch rückte bei der Ernährung an die Stelle von Getreide, und der Hunger wurde kontinuierlich zurückgedrängt – außer dort, wo Katastrophen, Dummheit und Gewalt dazwischenfunkten.
    Wie alle anderen Organismen, so verwandeln auch Menschen überschüssige Energie in Nachkommenschaft, und so kam es im 20. Jahrhundert zusammen mit der Nahrungsmittelproduktion annähernd zu einer Vervierfachung der Weltbevölkerung. Aber in anderer Hinsicht wichen die Menschen von der Norm ab. Statt ihren gesamten unerwarteten Energiezugewinn in Nachkommen zu stecken, horteten sie etwas davon in ihrem eigenen Körper. Ein Erwachsener hatte im Jahr 2000 im Durchschnitt 50 Prozent mehr Körpermasse als hundert Jahre zuvor. Die Menschen wurden zehn Zentimeter größer, wurden fülliger und hatten mehr Energie für die Arbeit zu Verfügung. Diese größeren Menschen entwickelten robustere Organe und legten Fett zu (in reichen Ländern zu viel) und wurden damit widerstandsfähiger gegen Krankheiten und Verletzungen. Heutige Amerikaner und Westeuropäer leben üblicherweise 30 Jahre länger als ihre Urgroßeltern und genießen ein bis zwei zusätzliche Jahrzehnte, bevor

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