Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
würde doch jedes vorstellbare Kriegsszenario mit einer demütigenden Niederlage für das Reich der Mitte enden, mit dem Sturz der Kommunistischen Partei und vielleicht mit dem Auseinanderbrechen des Landes.
Und dennoch: Ein Sieg in einem solchen Krieg wäre für die USA kaum weniger grauenhaft als für China. Selbst ein auf kleiner Flamme ausgetragener Konflikt würde enorme Kosten verursachen. Beide Seiten stünden dann vor einem finanziellen Desaster. Noch schlimmer wäre ein nuklearer Schlagabtausch, der die nordamerikanische Westküste und weite Teile Chinas in radioaktive Wüsten verwandeln, einige hundert Millionen Menschen töten und die Weltwirtschaft in eine Abwärtsspirale ohne absehbares Ende stürzen würde. Außerdem und noch fataler: Ein chinesisch-amerikanischer Krieg könnte ohne weiteres auch Russland mit einbeziehen, das noch immer über das weltweit größte Nukleararsenal verfügt. 4*
Wie immer wir das betrachten: Ein atomarer Weltkrieg wäre Wahnsinn. Zum Glück versichert uns eine Phalanx von Experten, dass in einer globalisierten Welt ein solcher Wahnsinn unmöglich sei. »Keine physische Gewalt kann die Macht des Kreditwesens beiseite schieben«, sagt einer dieser Autoritäten. 35 Für einen anderen ist die »internationale Bewegung des Kapitals der größte einzelne Garant des Weltfriedens« 36 . Und ein dritter fügt hinzu: Ein Krieg würde »die Ausgabe einer so großen Geldsumme und einen so großen Eingriff in die Wirtschaft notwendig machen, dass er von einem totalen Zusammenbruch des Kreditwesens und der Industrie in Europa begleitet sein oder dieser auf ihn folgen würde« 37 ; denn ein Krieg hätte »absolut unberechenbare Ergebnisse: totale Erschöpfung und Verarmung; Industrie und Handel würden ruiniert und die Macht des Kapitals zerstört werden.« 38 .
Das klingt beruhigend – nur: Diese Experten sprechen nicht über den chinesisch-amerikanischen Krieg irgendwann nach 2010; die Zitate stammen vielmehr aus der Zeit von 1910 bis 1914. Allen Kronzeugen war daran gelegen, die Unmöglichkeit eines Kriegs zwischen den europäischen Großmächten zu demonstrieren. Wir wissen, wie das ausging.
Vielleicht werden uns die Staatsmänner der Welt ein ums andere Mal von einem Abgrund zurückreißen. Vielleicht können wir für eine weitere Generation ein atomares 1914 vermeiden, vielleicht sogar die nächsten 50 Jahre lang. Doch ist die Annahme wirklich realistisch, dass wir Terroristen und Schurkenstaaten dauerhaft daran hindern können, die Bombe in ihren Besitz zu bringen? Können |582| wir jedem politischen Führer zu jedem Zeitpunkt klarmachen, dass ein nuklearer Krieg nie und nimmer die beste Option wäre? Selbst wenn wir die Weitergabe von Atomwaffen halbwegs begrenzen können, wird es um 2060 knapp 20 Atommächte geben – und einige davon im Bogen der Instabilität.
Jahr für Jahr wird, auch wenn wir Armageddon verhindern können, die Bedrohung der apokalyptischen Reiter dennoch weiter wachsen. Der Druck auf die Ressourcen wird größer werden, neue Krankheiten werden sich herausbilden, Atomwaffen werden weitergegeben werden und – die schleichendste dieser Gefahren – extreme Wettereignisse werden unsere Überlegungen in unvorhersehbarer Weise umstoßen. Der Glaube, wir könnten solche Gefahren dauerhaft ausbalancieren, hat etwas Aberwitziges.
Offenbar nähern wir uns einer neuen harten Decke. Als die Römer ihre Entwicklung im 1. Jahrhundert u. Z. der damals undurchdringlichen Grenze entgegentrieben, gab es für sie zwei Möglichkeiten: einen Weg zu finden, um die Decke zu durchstoßen (dann hätte die gesellschaftliche Entwicklung einen weiteren Sprung gemacht), oder ihn eben nicht zu finden (dann hätten die apokalyptischen Reiter sie erwischt). Die Römer sind gescheitert, und damit begann ein 600-jähriger Niedergang, der die Rate der gesellschaftlichen Entwicklung um mehr als ein Drittel nach unten drückte. Im 11. Jahrhundert, als die Song die gleiche harte Decke erreichten, misslang auch ihnen der Durchbruch, und die Rate der gesellschaftlichen Entwicklung im Osten fiel zwischen 1200 und 1400 um fast ein Sechstel.
Wenn wir uns nun im 21. Jahrhundert einem gleichermaßen undurchdringlichen Deckel nähern, stehen auch wir vor den beiden Optionen, allerdings mit verschärften Konsequenzen. Als Römer und Song keine Lösungen fanden, war ihr Niedergang vergleichsweise luxuriös, da er sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Dieses Glück werden wir nicht haben. Es
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