Wer sagt, dass Kinder gluecklich machen
seufzt eine Mutter. »Sie haben eine tolle Finca auf Mallorca, feiern viel und sind auch sonst ein ganz enger Clan, in dem er sich total wohlfühlt. Besonders, weil er als Einzelkind einer Singlemutter so etwas nie erlebt hat. Wenn ich dort eingeladen bin, komme ich mir immer vor wie ein altes Aschenputtel.«
Stopp! Schluss mit dem Selbstmitleid! Wir müssen endlich aufhören, unsere Kinder als allein selig machende Glücksgaranten zu sehen. Es gibt ein Leben vor und eines nach den Kindern, besinnen wir uns endlich
darauf. Lauern wir nicht mehr auf Anrufe, E-Mails, SMS-Nachrichten, sondern leben wir ihnen vor, wie schön das Leben auch ohne sie ist. Und überlegen wir einmal in aller Ruhe, warum wir diese albernen Ängste vor Entfremdung haben. Vielleicht sind unsere Ideale falsch. Auch hier hilft wieder der Blick zurück. Hatten wir unsere Eltern weniger lieb, nur weil wir nicht ständig auf der Matte standen? Und wie heißt es noch mal in dem wunderschönen Lied von Sting: »If you love somebody set them free.« Dem ist nichts hinzuzufügen. [Ref43]
[Ref37]
Karin, 58, drei Söhne, 31, 33 und 36, eine Tochter, 28
»Leonie war ein wunderschönes, bezauberndes kleines Mädchen. Genau so, wie ich mir eine Tochter gewünscht und vorgestellt hatte, so war sie. Nach drei Jungen war ich hin und weg, so eine süße Tochter zu haben. Sie wickelte jeden Menschen in ihrer Umgebung um den Finger. Ich war sehr glücklich, dass ich ihr so ein gesundes, anregendes, entwicklungsförderndes, buntes Aufwachsmilieu bieten konnte, mit drei großen Brüdern, vielen Tieren, einem alten Bauernhaus, einer Mutter, die viel Zeit für sie hatte, und einem Vater, der sie auf Händen trug.
Leonie war immer aktiv, sie hatte viele Interessen, viele Freunde, sie war gut in der Schule, fröhlich, freundlich und machte uns keinerlei Kummer. Sie war ein kleines Girlie, war sehr mädchenhaft, trug gern Bonbonfarben, spielte mit Barbies, ging ins Ballett.
Mit zehn Jahren wurde sie quasi über Nacht zur Vegetarierin. Was bei vier Fleisch essenden Männern am Tisch nicht immer einfach war. Aber sie ließ sich nicht beirren, ging entschlossen ihren Weg. Sie zeigte keinen Missionseifer, es war ihr egal, was die anderen taten. Nur für sich selbst hatte sie eine Entscheidung getroffen und dazu stand sie. Kurz darauf streifte sie ihr Girlie-Image ab. Sie trug jetzt Tarnfarben und zeigte auch, zu meiner größten Besorgnis, andere Zeichen von Körperfeindlichkeit. Sie trug zum Beispiel im Hochsommer dicke, langärmelige Wollpullover, zeigte nie Haut, wollte nicht mehr ins Schwimmbad, weil sie keinen Badeanzug mehr anziehen wollte und so weiter. Was dahintersteckte, war nicht zu ergründen. Dann trat sie der Tierrechtsorganisation PETA bei, teilte ihr Zimmer mit Ratten und Mäusen, die sie in großen selbst gebauten Gehegen hielt.
Sie feierte gern, trank viel zu viel Alkohol und zog sich dann wieder in ihre Räuberhöhle zurück. Sie stellte auch alle sportlichen Aktivitäten ein, wurde von ihrer Umgebung immer weniger verstanden. Sie gewährte auch kaum jemandem Zugang zu ihrer Gedanken- und Gefühlswelt. Und im Gegensatz zu ihren großen
Brüdern war sie völlig frei von materiellen Bedürfnissen, Geld war ihr einfach nicht wichtig.
Unser Verhältnis war zu keinem Zeitpunkt feindselig, oft sogar ausgesprochen innig. Aber ich verstand sie nicht, konnte keinen Zugang zu ihrer Gefühlswelt bekommen. Ich wollte so gern, dass sie wieder mein kleines, süßes Mädchen ist, jetzt schien mir alles so schwierig, so unverständlich, so verkehrt. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich ihr Leben unnötig schwer machen würde, und fand einfach keine Erklärung, die diese Entwicklung für mich nachvollziehbar gemacht hätte. Der Stolz und die Freude, die ich früher empfand, verwandelten sich immer mehr in Sorge, aber auch Ungeduld und Unverständnis. Ich wünschte, diese schwierigen Zeiten irgendwie auszusitzen, in der Hoffnung, dass sich der ›gesunde Kern‹, von dem ich ja wusste, dass er da war, irgendwann wieder Bahn brechen würde.
Ich bewundere Leonie dafür, wie sie sich für das einsetzt, was ihr wichtig ist, und für ihre materielle Unabhängigkeit. Sie hat eine unglaublich schnelle Auffassungsgabe, viel Wortwitz, viel technischen Verstand und ein großes Herz für Tiere. Sie bringt mich oft zum Lachen, zum Schmunzeln, zum Nachdenken. Weniger mag ich ihr Phlegma, ihre Menschenscheu, ihre sozial unverträgliche Lebensweise, ihre extreme
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