Wer Schuld War
gemacht, in das man sich nur widerstandslos sehr tief hineinfallen lassen kann, um dort unten festzustellen, dass die
Wohnung plötzlich so erschreckend ruhig ist, selbst das übliche urbane Grundrauschen plötzlich verstummt zu sein scheint.
Auch von den Katzen ist nichts zu hören und zu sehen, sie liegen wahrscheinlich auf dem von Manuel wie immer sorgfältig gemachten
Bett. Weswegen Manuel sich später über weißlichgraue Haarbüscheln schwarz ärgern wird, was Barbara mittlerweile wirklich egal
sein könnte, aber immer noch nicht egal
ist
, auch wenn sie sich noch so oft einzureden versucht, dass allein zu wohnen seine Vorteile hat und sie die irgendwann auch
als solche empfinden wird.
Es klingelt an der Tür, und sie fährt zusammen, schon weil es das interne Läuten ist, schrill und penetrant, was bedeutet,
dass jemand in diesem Moment direkt vor der Wohnung steht, wofür es nun wirklich reichlich spät ist. Und so geht Barbara strumpfsockig
und auf Zehenspitzen zur Tür und sieht durch den Spion einen Jungen in Jeans, Basecap und überweitem schwarzem T-Shirt , das mit schartigen Lettern bedruckt ist.
Es braucht eine Weile, bis sie ihn erkennt.
»Philipp?«, ruft sie fragend.
»Kann ich reinkommen?«
Philipp hat sie noch nie besucht, und er sieht in seinerKluft auch nicht gerade vertrauenerweckend aus, aber sie mag ihn auch nicht draußen stehen lassen, nachdem er nun schon weiß,
dass sie zu Hause ist. Sie öffnet die Tür und bittet ihn herein, erleichtert, dass sie noch präsentabel und nicht etwa schon
in Jogginghose und Kapuzenshirt geschlüpft ist. Aber Philipp bleibt nicht nur stehen, er scheint sogar noch etwas zurückzuweichen,
als würde Barbara ihn plötzlich einschüchtern, und erst nach einer kleinen Pause bewegt er sich, pult einen schwarzen Gegenstand
aus den Tiefen seiner geräumigen Hose und streckt ihn ihr mit einer eigentümlich ruckartigen Bewegung hin.
Es ist Barbaras gestohlenes Portemonnaie. Das Geld ist nicht mehr darin, aber ihre längst gesperrten Scheck- und Kreditkarten,
ihr Führerschein und ihre Autopapiere. Konsterniert fragt sie: »Was soll das, Philipp?«, nachdem sie die Brieftasche durchgeblättert
hat, und Philipp sie ansieht, als hätte es ihm nun endgültig die Sprache verschlagen.
»Philipp?«
»Du darfst es niemandem sagen. Bitte.«
»Komm erst mal rein.«
»Wenn du es niemandem sagst, besorge ich dir auch die Schuhe wieder. Kann aber ein paar Tage dauern.«
»Hör mal …«
»Wenn du es jemandem erzählst, kriegst du gar nichts.«
»Du …«
»Ich gebe dir die Schuhe wieder zurück, wenn du es niemandem erzählst. Auch nicht Manuel.«
»Da verlangst du eine Menge.« Aber Barbara denkt an die teuren Schuhe von Costume National, die hochhackig, elegant geformt
und trotzdem bequem sind, und außerdem, was geht es Manuel jetzt noch an?
»Wann?«, fragt sie.
»Was?«
»Wann kriege ich die Schuhe wieder?«
»Nach Pauls Beerdigung. Ehrenwort.«
»Weiß deine Mutter davon?«
»Wenn du ihr etwas erzählst, komme ich zurück. Und zwar nicht allein.«
»Was soll das denn?«
Philipp dreht sich auf dem Absatz um und trampelt die Treppe hinunter, ohne zu antworten.
»Gina? Störe ich dich gerade?«
»Hallo, Barb. Nein, gar nicht. Für heute bin ich fertig.«
»Was hast du gemacht?«
»Nichts Wichtiges. Leinwände grundiert, Steuererklärung …«
»Ich muss dir etwas sagen.«
»Ja?«
»Paul ist tot.«
»Was?«
»Er hatte einen Schlaganfall.«
»Oh nein. Nein.«
»Ja, es ist schrecklich. Kann ich vorbeikommen? Ich weiß, es ist spät …«
»Bitte, komm.«
»Soll ich Wein mitbringen?«
»Ja. Bitte.«
»Ich muss dir noch etwas erzählen. Das Leben ist im Moment eine Kette von Verrücktheiten.«
»Komm schnell.«
GINA
Ihre Affäre mit Manuel hat an einem Freitag vor zwei Monaten begonnen, als Barbara auf einem Pressetermin in Ägypten war,
und Gina sie am frühen Abend auf ihrem Festnetzanschluss angerufen hatte, weil Barbs Handy ausgeschaltet war. Normalerweise
vermeidet Gina Anrufe auf dem Festnetz, weil Manuel am Telefon sehr kurz angebunden sein kann, aber diesmal hatte sie das
dringende Gefühl, mit Barb reden zu müssen. Weswegen weiß sie allerdings nicht mehr, vielleicht hatte sie ein Bild verkauft,
vielleicht war an diesem Tag ihr erstes großes Interview in der Kunstzeitschrift erschienen, deren Redaktion sie bislang hartnäckig
ignoriert hatte, vielleicht hatte sie gar nicht
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