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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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uns die Polizeibeamten verfolgten. Die Gegend wirkte dunkel wie ein Grab.
    Wir rappelten uns auf und Franco stieß mit dem Fuß nach seinem Rad.
    Ich war in Brennnesseln gefallen und hätte, obwohl ich die Quaddeln eilig mit Spucke überstrich, gerne geweint. Doch hätte Franco dann den anderen von mir erzählt. Deshalb schluckte ich nur heftig und wartete, ohne zu wissen, worauf.
    Denn es gab nichts, nur Mauern. Dahinter Schienen und Schotter. Manchmal ein funzeliges Licht.
    Franco fummelte noch immer am geplatzten Vorderreifen. Aber gerade als ich ihn fragen wollte, was wir denn nun tun sollten, erschien unter einem Torbogen ein Schatten, dann ein zweiter, und beide Schatten hatten kahle Köpfe.
    »Hallo«, sagte der Erste.
    »Hi«, sagte Eberhard.
    Vielleicht gibt es Augenblicke, in denen man vergessen kann, dass man auch Atem schöpfen muss, wenn man noch irgendetwas machen will. Auf jeden Fall gibt es Momente, in denen man den Herzschlag der Nacht ringsum zu hören meint, in denen man bemerken kann, wie sich ein Eindruck in den Kopf gräbt – ich sah ein Bild: das Unkraut an der Mauer. Spürte das Rucken meiner aufgerissenen Augen, sah plötzlich meinen eigenen Schädel, darunter die vor Schreck entstellten Züge, tastete mit den Fingerspitzen nach meiner Haut und fühlte nichts.
    »Hallo!«, sagte Eberhard. Und noch einmal: »Hallo!«
    Denn weder ich noch Franco waren fähig etwas zu erwidern oder auch nur ein Wort zu sagen. Wir konnten uns nicht mal bewegen. Selbst das Zittern ließen wir, so gut es ging.
    Ein knappes, angespanntes Schweigen. Verstohlen linsten wir nach einem Fluchtweg, als Karl-Heinz uns angrinste und zwischen seinen Zähnen den kurzen Satz zerkaute: »Das habt ihr beide richtig cool gelöst.«
    Ich konnte hören, wie sich Franco mühte nicht laut zu schlucken – oder schlimmer: noch mal zu kotzen.
    Er fragte, und in seiner Stimme blieb ein leichtes Zittern hängen: »Warum habt ihr uns eigentlich geholfen?«
    »Weil ihr«, lachte Eberhard, »unsre Hilfe brauchtet.«
    Karl-Heinz trat mit den schweren Stiefeln nach einem Stück des Fahrradreifens. »Außerdem sind wir grundsätzlich gegen Bullen. Das genügt als Grund. Die sind schlimmer als Kanaken!«
    »Aber«, sagte Franco zaghaft, vielleicht, weil für ihn alles viel zu schnell ging, »ich bin Spanier, wisst ihr das?«
    Stimmt nicht, wollte ich schon sagen, nur die Mutter, nicht sein Vater, biss mir aber auf die Zunge. Etwas an der Antwort war nicht richtig, war wie ein zerquetschter Käfer, den man danach essen muss.
    Sie zögerten. Ich kaute an den Knöcheln. Sie lächelten, nachdem sie mit den Stiefeln den Rest des Fahrradschlauchs zerkrümelt hatten. Sie schwiegen. Ich dachte: Ich bin Deutscher – wie ihr auch!
    Dann schlugen sie Franco beide auf die Schulter. Ihre Stiefel knirschten auf dem alten Kopfsteinpflaster.
    Ich spürte wieder die Quaddeln von den Brennnesseln. Doch traute ich mich nicht zu kratzen.
    Franco knickte in den Knien etwas ein und schloss die Augen. Bis er hörte: »Spanier? – Gegen Bullen ist uns das egal …«
    Sie hatten uns aufgefordert mit ihnen mitzukommen. Sie sagten: »Wegen der Klamotten, die könnt ihr bei uns wechseln.«
    Franco schulterte sein Rad und folgte ihnen wortlos. Selbst seinem Rücken sah man an, wie sehr Franco sich fürchtete seinem Vater zu begegnen. Nass und stinkend und mit geplatztem Reifen.
    Ich zögerte, obwohl das niemand merkte. Dann ging ich mit den Brüdern und Franco mit, obgleich ich mir nicht sicher war, ob die Brüder wirklich wollten, dass wir sie besuchten.
    Vielleicht hatten sie uns nur im ersten Überschwang zu sich eingeladen. Manchmal schauten sie sich an, als sei ihnen nicht mehr ganz wohl bei dem Gedanken, dass wir gleich ihre Wohnung sehen würden. Franco merkte davon nichts. Und auch die Brüder wirkten so, als sei ein Entschluss für sie ein Entschluss, den man nicht mehr umwarf.
    Also gingen wir weiter. Während wir über Zäune stiegen und auf dem alten Bahngelände den Schäferhunden, die die Brüder kannten, auswichen, uns weder unterhielten noch anhielten, um auszuruhen, fragte ich mich, warum ich mit den Brüdern mitgegangen war.
    Ich hätte sagen können: aus Angst. Aus Angst davor, dass sie beleidigt wären, wenn man ihrer Einladung nicht folgte. Wahrscheinlich war das sogar richtig. Nur war es nicht der ganze Grund.
    Denn es gab etwas, das ich mir bislang nicht eingestanden hatte und das mich an den Brüdern faszinierte, seitdem ich sie zum ersten Mal in

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