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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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der Klasse gesehen hatte: zwei Silhouetten, je ein kahler Kopf.
    Es waren nicht die Heftchen. Auch nicht, was mein Vater unter konkret verstand. Nicht der Hafen mit den Schweinen. Nicht einmal die Gartenlaube, die sonderbare Maskerade mit Tina und die Tanzerei. Auch nicht, wie bei Franco, die Fähigkeit der Brüder, sich zu prügeln. Es war etwas anderes. Etwas, das ich nicht genau benennen konnte. Es war das Gefühl, dass sie auf der anderen Seite standen, die mir, weil sie dunkel war, Furcht verursachte und Unbehagen, mich aber dennoch anzog.
    Wir gingen weiter, stiegen über Zäune. Liefen durch stillgelegte Tunnel und kletterten an Böschungen hinunter. Ich sprach inzwischen fast schon mit mir selber. Doch niemand achtete darauf. Ich war ein Stück zurückgeblieben.
    Vielleicht gab es die andere Seite ja überhaupt nicht. Doch seitdem ich Ayfer auf der Klassenfete vor Viktor hatte stehen sehen, dachte ich mir, dass es sich lohnen würde, das herauszufinden.
    Deshalb holte ich tief Luft. Danach fragte ich Karl-Heinz, warum er und sein Bruder arbeiteten, so richtig, dazu noch in einem Schlachthof.
    »Obwohl wir noch zur Schule gehn wie ihr?« Er sah mich an, hob eine Braue, schüttelte müde seinen Kopf, grunzte, drehte sich weg und schwieg, während er langsam weiterging. Und mir fehlte der Mut die Frage einfach zu wiederholen.
    Aber anstelle seines Bruders antwortete Eberhard: »Kapierst du sowieso nicht …« Dabei schob er seinen Kopf etwas vor und rollte seine Schultern, als jucke es ihn an den Schulterblättern, an einer Stelle, wo man sich nicht selber kratzen kann.
    Und während er hinzufügte: »Wir gehen zwar zur Schule, aber eben nicht nur«, bog er vor mir starke Äste eines Strauchs zur Seite, um mich durchzulassen.
    Und Franco sagte: »Halt mal kurz mein Fahrrad!«, und sprang, zusammen mit Karl-Heinz, vom Bahndamm auf den Hinterhof. Sie rollten – rascher Purzelbaum – über den weichen Rasen.

14
    Die Wohnung roch nach Feuchtigkeit, obwohl der Sommer gerade erst vorbei war.
    Karl-Heinz schloss hinter uns die Tür. Wir tasteten uns durch den Flur, in dem es keine Birne gab, bis in die Küche, einen Raum, der ungewöhnlich groß war und beinah quadratisch. Wir schauten uns verstohlen um: Die beiden Zimmer schlossen sich direkt an die Küche an. Nur das Bad und eine Kammer hatten eine Tür zur schmalen Diele.
    »Warum gibt’s kein Licht im Flur?«, fragte Franco vorsichtig.
    »Manchmal mag es unsre Mutter nicht, wenn es zu hell ist«, antwortete Eberhard, »dann dreht sie die Birnen aus der Fassung.«
    Karl-Heinz ergänzte: »Und vergisst, wo eine fehlt … Manchmal müssen wir die dann ersetzen.«
    Ich dachte: Sonderbare Mutter. Aber ich sagte lieber nichts. Es fiel nicht auf, weil ich ja selten etwas sagte. Und außerdem merkten wir alle plötzlich, dass die nassen Schuhe von Franco und mir auf dem Teppich Wasserflecken hinterließen.
    »Zieht die Botten lieber aus«, murmelte Karl-Heinz.
    Sein Bruder zuckte fast entschuldigend die Schultern: »Unsere Mutter ist da eigen. Sonst ist sie nett. Nur mit dem Dreck, da kriegt sie öfter eine Krise. Nicht immer. Aber wann, das weiß man nie.«
    Jetzt erst, als ein bisschen Licht von der Küche in den Flur fiel, bemerkte ich, wie sauber es sogar in der Diele war. Der Teppich wirkte, als ob jemand jeden Fussel einzeln aufgehoben hätte. Und dort, wo das Licht direkt auf die Scheuerleisten fiel, glänzte das lackierte Holz. Es gab keinen Staub, in keiner Ecke.
    Allerdings fiel das Licht nicht in allzu viele Ecken. Denn die Wohnung lag im Souterrain. Über den Räumen gab es je einen Hängeboden. Die Fenster, alle ebenerdig, blickten auf das Kopfsteinpflaster eines Bürgersteigs.
    Tagsüber konnte man wahrscheinlich die Schuhe der Passanten sehen, denn die Fensterscheiben waren genauso sorgfältig geputzt wie die Fliesen an der Spüle. Nirgends lag etwas herum. Die Wohnung sah aus, als ob man einen Werbefilm für Ata drehen wollte. Zu ordentlich. Zu aufgeräumt. Und deshalb nicht geheuer.
    Vor allem, wenn man die Janetzki-Brüder anschaute, die groß und klobig zwischen den Porzellanfiguren auf den Fensterbänken und all den gehäkelten Deckchen auf jedem Tisch oder Stuhl standen. Die beiden Brüder schienen sich in dieser Küche unwohl zu fühlen. So wie es einem im Kaufhaus in der Geschirrabteilung geht, wenn man sich kaum umzudrehen wagt.
    Wieder hatte ich den Eindruck, die Brüder bedauerten, uns mitgenommen zu haben. Wahrscheinlich hatten sie nicht

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