Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
Vom Netzwerk:
Flasche.
    »Weil’s bei ihm früher genauso war.« Karl-Heinz malte mit den Fingern Linien ins verkippte Bier.
    »Deshalb zahlen wir auch Haushaltsgeld.«
    »Oder helfen Mama.«
    Weil Franco zu erstaunt war, konnte er nicht weiterfragen, sondern schluckte nur sein Bier und begann vor Aufregung zu niesen. »Aber …«, setzte er dann an.
    Karl-Heinz knurrte: »Außerdem hat unser Vater noch ’ne Tussi. Und das kommt teuer, is’ ja klar.«
    Bevor Franco fragen konnte, was es damit auf sich habe, pochte es in einem der beiden Zimmer mehrfach schüchtern gegen eine Schranktür oder an eine Kommode. Ich erschrak und fuhr zusammen. Eberhard lief schnell zur Tür, öffnete und schloss sie hastig.
    In der Küche war es still. Unwillkürlich lauschten wir. Vielleicht bis auf Karl-Heinz. Doch weder ich noch Franco achteten auf ihn.
    Hinter der Tür hörte man unterdrücktes Flüstern. Bettzeug raschelte. Pantoffeln schlappten gegen einen Schrank. Danach vorsichtige Schritte. Unter dem Türspalt war kein Licht. Tappen in dem dunklen Zimmer.
    Dann führte Eberhard die Mutter langsam in die Küche. Wenn man sie von Nahem sah, wirkte sie überraschend jung. Nur die Hände zitterten. Manchmal zuckte das Gesicht, ohne dass die Frau daran etwas ändern konnte. Unwillkürlich dachte ich: Das ist die Hexe. Obwohl sie nicht bedrohlich wirkte und auch gar nicht hutzlig war. Sie lief nur sonderbar gebückt, als fürchte sie, es könne ihr jemand gleich eine Kopfnuss geben. Ihre Gesichtshaut war sehr bleich, wie straff gezogenes Cellophan. Das Erste, was sie tat: Sie zog, obwohl es draußen dunkel war, die Vorhänge vors Fenster.
    »Das macht sie immer«, murmelte Karl-Heinz, »hab ich euch ja gesagt. Sie mag kein Licht.«
    Es war ihm peinlich. Er stand auf. Lief rasch ins Zimmer, in dem die Mutter wohl geschlafen hatte, holte Sachen: Jeans, Sweatshirts und Pullover. Aber das Licht blieb aus.
    Selbst in der Küche wurde die Lampe ausgeknipst. Es brannten nur zwei Kerzen. Eberhard zuckte die Schultern, als wolle er erklären: Von uns kann keiner was dafür.
    Plötzlich roch ich den Schnapsgeruch. Und obwohl alles weniger verhext erschien, seitdem die Mutter aufgestanden war, wollte ich nur noch weg, ganz schnell nach Hause. Die Mutter war betrunken.
    Franco fragte beklommen: »Wo ist denn euer Vater? Schläft der im andern Zimmer?« Plötzlich wurde auch Franco unheimlich zumute. Er rutschte auf seinem Stuhl umher und starrte Richtung Diele.
    »Nee«, murmelte Eberhard, »da darf niemand rein.«
    Er starrte unsicher auf die Zimmertür, als könne sie sich dennoch plötzlich öffnen.
    Wir wechselten im Bad schnell unsre Sachen. Gingen zurück in die Küche. Schauten uns hastig an und steckten unser Zeug in Plastiktüten. Es roch nach Hafen. Hin und wieder plitschte ein Tropfen auf den Boden. Inzwischen war es kurz vor zwölf. Man hörte einen Schlüssel am Schloss der Wohnungstür.
    Die Mutter wurde plötzlich steif. Der Schlüssel rutschte mehrfach ab.
    »Wer ist das?«, fragte Franco.
    »Vater«, sagte Eberhard. Und sah so aus, als sei er nicht nur völlig überrascht, sondern darüber hinaus fürchterlich erschrocken.
    »Und wieso sagt er nichts?«
    »Sagt nie was.«
    »Und wieso lasst ihr ihn nicht rein?«
    »Weil er ein Vieh ist, deshalb.«
    Franco schaute ungläubig. Ich glaubte Eberhard sofort. Auch wenn mir vom Bier schon schwindlig war. Denn während sich der Vater am Schloss zu schaffen machte, konnte man sehen, wie Karl-Heinz und neben ihm auch Eberhard, ein Schatten ihrer selbst, verfielen.
    Sie waren gar nicht mehr die Brüder, sondern nur unscheinbare Körper nah der Wand. Sie sahen aus, als wären sie nur noch bei sich, nicht mehr in der Umgebung, als würden sie auch nicht mehr wahrnehmen, was um sie her geschah.
    Eberhard winkte uns mit einer schwachen Geste, wir sollten uns in eine Ecke ducken. Der Vater würde uns dann nicht beachten.
    Ich sah, wie die Gesichter der beiden sich veränderten. Obwohl nur die zwei Kerzen brannten. Es war, als würde alles Fleisch am Kiefer, an den Wangenknochen zurück in ihre Schädel fallen. Die Zahnreihen rutschten nach vorn. Die Augen, stumpf und schwarz, vier Steine, glitten in ihre Höhlen. Haut überspannte das Skelett. Und nur die Sehnen, die wie Borke waren, traten nach außen und pulsierten leicht.
    Franco und ich beeilten uns. Und während Eberhard die Kerzen in der Küche löschte, sodass nur noch das Straßenlicht durch die Ritzen der Vorhänge die Küche fahl beleuchtete,

Weitere Kostenlose Bücher