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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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schaffte es der Vater endlich die Haustür aufzuschließen. Wir hörten, wie er sich räusperte. Er betrat den Flur.
    An irgendeiner Kirchturmuhr schlugen die Glocken Mitternacht.
    Die Mutter lehnte an der Wand. Franco ging langsam in die Knie. Dann begann er – das war seltsam, ich hatte es noch nie bei ihm gesehen – tonlos zu beten, faltete die Hände.
    Ich wagte nicht zu lachen. Stand nur mit aufgerissenen Augen wie ein Pfahl in meiner Ecke und betrachtete die Küche, von der ich nicht glauben konnte, dass es sie wirklich gab.
    Karl-Heinz und Eberhard verharrten dicht beieinander nah der Spüle. Nicht, als ob sie fürchteten, ihr Vater würde sie gleich schlagen, und doch in der Erwartung eines unabwendbaren Geschehens.
    Franco betete. Ich merkte, wie der raue Stoff der Hose an den Oberschenkeln kratzte. Eberhard knirschte mit den Zähnen. Immer noch waren die Köpfe beider Brüder wie die Schädel von zwei Toten, die man erst nach Monaten ausgegraben hat.
    In der Mitte, nah dem Tisch, stand der Vater. So, als könne er die Küche kontrollieren. Doch er schwankte. Und das Licht reichte nicht, um Gegenstände deutlich zu erkennen.
    Er hätte auf den Schalter drücken können, aber das tat er nicht. Fuhr sich fahrig durchs Gesicht. Rieb sich ausgiebig die Augen. Musterte die schattenhaften Schemen der beiden Brüder, schüttelte den Kopf. Mich und Franco übersah er. Obwohl wir uns nicht versteckten.
    Er wandte sich der Mutter zu, die leblos an die Tür gelehnt auf ihn zu warten schien – als sei er wer, dem man gehorchen müsse.
    Er winkte ihr kurz mit dem Kopf. Sie löste sich vom Türpfosten und folgte seiner Geste, indem sie die dunkle Küche durchquerte und die Tür des zweiten Zimmers still und ergeben vor ihm öffnete.

15
    An der Tür stand: Frankie’s Billard . Franco ging voran. Die Brüder, Hände in den Hosentaschen, folgten. Ihre Köpfe saßen auf dem Rumpf, als seien sie zwei Rammböcke aus Stein. Ich hielt mich noch im Hintergrund, weil ich mit dem Billardqueue überhaupt nicht umgehen konnte, ließ die anderen drei vor und tat so, als würde ich die Getränkepreise aufmerksam studieren.
    »Komm schon«, sagte Eberhard, »echt, das kannste lernen.«
    Alle Plätze waren besetzt. Am Tresen standen die, die auf einen freien Tisch warteten oder Termine vorbelegen wollten.
    Der Raum war lang gestreckt, fast eine Halle, und nicht sehr hoch. Die Spieler rauchten. Sie hielten ihre Zigaretten im Mundwinkel und kniffen ein Auge zu. Die Luft war warm und stickig und schien über dem grünen Filz der Billardtische zu verharren. Franco bestellte einen Schnaps. Er hatte sich verändert, seitdem wir uns nachmittags mit den Brüdern trafen. Wir trafen uns mit ihnen trotz ihrer sonderbaren Eltern. Die zählten nicht – die Brüder zählten. Und das, was sie unternahmen. Besonders Franco war versessen darauf, die beiden kennenzulernen. Alles, was sie wie selbstverständlich taten, machte er so, als müsse er darin der Beste werden.
    Egal, ob er den nackten Frauen in Videokabinen zusah, in neuen Heftchen blätterte oder an Glücksspielautomaten auf Ziffern und Symbole starrte: Es interessierte ihn nicht nur anders als der Unterricht, es hielt ihn fest, nahm ihn gefangen, war nicht bloß Neugier wie bei mir. Manchmal ging er deshalb sogar nicht zur Schule.
    Ich schwänzte auch, doch nicht so oft. Und obwohl ihm sein Vater – »Bin ich denn dein Bimbo?« – selten die Entschuldigungen für die Lehrer unterschrieb, fehlte Franco viel häufiger. Für mich war es nicht schwierig, Entschuldigungen zu bekommen. Meine Eltern waren abends häufig abgelenkt und hörten nur mit halbem Ohr, was ich von ihnen wollte: Sie unterschrieben ohne hinzusehen.
    Und da die Brüder nach wie vor vom Unterricht beurlaubt waren, weil erst entschieden werden sollte, was wegen des Zwischenfalls mit Viktor zu geschehen habe, bekam nur Franco Schwierigkeiten. Hin und wieder sah man das, weil er eine geschwollene Backe hatte.
    Vor uns in der Billardhalle warteten drei Türken. Und ein großer Araber mit offenem Hemd. Zwischen den Haaren auf der Brust hing eine Kette.
    »Das ist echtes Gold, mein Lieber«, sagte Eberhard.
    Die Türken und der Araber bekamen den letzten Tisch. Sie spielten Pool. Wir warteten am Tresen, tranken Kaffee.
    Karl-Heinz buffte mich am Arm. »Kaffee, weil beim Billard Klarheit angesagt ist. Klarheit, Kleiner!«
    Eberhard ging zu den Tischen, schaute eine Weile zu und stieß, als er sich umdrehte, dem Araber

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