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Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Prokop
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vor diesen Händen erschaudern, Maggy, sondern vor einer Welt, die einen gutmütigen, alten, müden Mann zwingt zu töten, wenn er nicht an Hunderttausenden von Unschuldigen schuldig werden will. Manchmal bekommt man die Verantwortung in die Hände gespielt und kann sich nicht drücken, nicht, wenn man noch ein Fünkchen Gewissen in sich hat.«
    Er goß ein großes Glas voll Gin und stürzte es in einem Zug hinunter.
    »Entseelt – seit Jahrtausenden haben die Menschen dieses Wort gebraucht, aber sie hatten keine Ahnung, wie schrecklich es sein würde, wenn diese Metapher eines Tages Wirklichkeit wird.«
    »Was meinst du, Tiny?«
    »Johnny hat wahrscheinlich eine gewaltige Entdeckung gemacht, die – nein, ich werde es dir nicht sagen. Es soll hier in meinem Kopf begraben bleiben. Niemand soll es erfahren. Niemand!«
    »Glaubst du, daß du eine Entdeckung ungeschehen machen kannst? Irgendwann wird ein anderer darauf stoßen.«
    »Manchmal bedeuten ein paar Jahre unendlich viel. Ein Jahr oder zwei, das kann das Leben von Millionen Menschen bedeuten, ja unseres ganzen Planeten.«
    12.
    Timothy badete lange. Er schwamm zwischen rosa Korallenriffen, über denen zartblaue Quallen im Sog wedelten. Danach wählte er lange, bis er sich für einen kardinalsroten Anzug und ein mattgoldenes Hemd entschied. Er ging in die Küche und blickte in die Vorratskammer. »Nein«, murmelte er, »heute kann ich nichts aus Dosen ertragen.« Er kochte sich zwei Eier.
    Während er sein Haar rotgold kämmte, ließ er Napoleon die in seiner Abwesenheit eingegangenen Communics vorspielen. Plötzlich lachte er laut auf. Auf dem Bildschirm stand:
    + + vorfall in klinik war kein attentat, sondern fahrlässigkeit des personals + pfleger hat gestanden + lexington +++
    »Weißt du, Napoleon«, sagte Timothy vergnügt, »es verblüfft mich immer wieder, wie man von einem falschen Ausgangspunkt ausgehen und doch an das richtige Ziel kommen kann.« Bevor er sein Appartement verließ, fragte er Napoleon: »Leidest du darunter, daß du keine Seele hast?«
    Es dauerte nicht lange, bis Napoleon sich räusperte. Timothy drückte die Gebertaste.
    + + was ist eine seele? + keine information in speicher + soll ich recherchieren? + + n. + + +
    »Lieber nicht«, sagte Timothy.

Samuel, das Monster
    1.
    Timothy spürte seine Sinne schwinden. Das Gefühl von Nässe, das ihn noch von seiner Umwelt getrennt hatte, löste sich auf; alles Gefühl kroch aus der Haut, den Muskeln; die Nerven verstummten. Er schwebte schwerelos, körperlos. Die letzten Spuren des herben Aromas von Tang und Meer verflüchtigten sich. Eine unbeschreibbare Leichtigkeit durchflutete ihn. Dann setzte die große Stille ein, löschte das Rauschen eines fernen Gestades, löschte Wellen und Brandung, und zugleich starb das Licht. Die Farben verkrochen sich. Das Blau wallte in Grünblau, Violettblau, Schwarzblau, Blauschwarz und schließlich in ein farbloses Dunkel, aus dem ferne Lichtpunkte flohen.
    Als er erwachte, wußte er nichts.
    Er versuchte sich zu erinnern. Er hatte keine Vorstellung, wo er sich befinden mochte, nur das unbestimmbare Empfinden einer im Dunkeln lauernden Gefahr. Timothy fragte sich, ob er sich fürchtete. Es schien ihm unendlich lange zu dauern, bis er die Frage formuliert und bis er sie beantwortet hatte. Nein. Dann wurde ihm bewußt, daß er seinen Körper nicht fühlte. Er versuchte, die Finger zu bewegen. Er konnte nicht feststellen, ob es ihm gelang. Ein Gedanke an Tod huschte durch sein Gehirn: körperlose Seele. Timothy wehrte sich gegen den Gedanken. Ich denke, also bin ich. Er versuchte, die Zehen zu krümmen, die Hände zu bewegen, die Füße. Nichts. Als er seinem Kopf den Befehl gab, sich zu drehen, glaubte er, ein kaum wahrnehmbares Ziehen gespürt zu haben, so, als habe jemand ein Haar gegen den Strich gebürstet.
    Er wollte mit der Hand an den Nacken greifen, aber er merkte nicht, ob die Hand sich bewegte, und nicht, ob die Finger etwas berührten. Er schloß die Augen. Kein Anzeichen verriet ihm, ob wenigstens das gelungen war. Warum?
    Er war erschöpft. Er machte eine lange Pause, bis er sich kräftig genug für eine neue Anstrengung wähnte. Er öffnete die Lider.
    Licht kreiste vor seinen Augen, so dicht, daß er erschrak. Er war froh, daß er erschrecken konnte. Und daß es ein Licht gab. 11.17.
    Als Timothy erfaßte, daß es Zahlen waren, setzte auch sein Erinnerungsvermögen wieder ein. Elf Uhr siebzehn. Das Bad. Vainity. Die Lichtzeichen pendelten.

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