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Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Prokop
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ein falscher Name. Timothy sagte, er habe auch keine Reparatur bestellt. Der Monteur schüttelte den Kopf, schimpfte auf die Unzuverlässigkeit des Annahme-Automaten, zerriß den Auftrag und bat Timothy, die Schnipsel in den Müll zu werfen. Timothy löste vorher sorgfältig einen I-Punkt ab, der sich als Negativ erwies, das in der Vergrößerung die Südseite des »Nebraska« zeigte. Inmitten der Reklamen prangte deutlich sichtbar, doch nicht zu auffällig, ein Patrick-Kreuz, darunter die Nummer 8 27 3o 72 83. Am unteren Rand des Negativs waren ein paar Kreuze, Kreise und Vierecke eingekratzt, die Timothy als Bestätigung seiner Nachricht und Billigung seines Vorgehens deuten konnte, der Doppelkreis besagte: Safety first.
    Trotzdem heftete Timothy ein Schild mit den Ziffern 72 83 hinter die Nummer seines Appartements. Dieses Risiko mußte er eingehen, wenn er überhaupt eine Erfolgschance haben wollte. Er rief aber sogleich die Bachstelze an, erkundigte sich nach Neuigkeiten und erzählte ein paar waghalsige Kombinationen. Die Bachstelze lobte ihn ob seines Eifers. Timothy meldete sich am nächsten Morgen wieder bei ihr, damit sie ihn ja nicht besuchen kam.
    Die Nacht verbrachte er in einem Sessel auf dem Flur, auch den nächsten Tag. Kurz vor der Sperrstunde wurde seine Geduld belohnt. Die Türklingel schlug an. Timothy wäre beinahe hingefallen, so schnell stürzte er aus dem Sessel und zur Tür. Er zog den Mann, der vor seinem Appartement stand, herein, entfernte die Karte hinter seiner Wohnungsnummer und blickte nach links und rechts; er atmete erleichtert auf, da er niemand sah außer dem Safeman, dem er beruhigend zunickte. »Willkommen«, sagte er dann und öffnete die Tür zum Tagesraum. »Tritt ein, Samuel, und sei mein Gast.«
    Wenn Timothy ihn nicht erwartet und in den vergangenen Tagen nicht stundenlang das Porträt studiert hätte, er hätte Baxter nicht erkannt, auch nicht, als der die Ballonmütze absetzte, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, und sein Haar auf die Schultern fiel. Baxter war unrasiert, seine Haut war grau und rissig, die Augen eingefallen, die Lider rot entzündet, tiefe Falten hatten sich eingegraben. Baxter trug einen Raglanmantel, der sein zweites Paar Arme gut verbarg, aber Timothy glaubte nicht, daß dieser Mantel zur Ausrüstung gehört hatte, er sah aus, als habe Baxter ihn einer Heuschreckenscheuche gestohlen. Baxter wankte mehr, als er ging. Timothy führte ihn zum Sessel.
    »Oder willst du gleich ins Bad und dich erfrischen?«
    Baxter ließ sich in den Sessel fallen. Er öffnete seine aufgesprungenen Lippen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen hervor. Timothy öffnete den bereitstehenden Servicewagen, in dem ein Dutzend im Licht funkelnder und sich in den Spiegeln der Seitenwände und der Rückwand immer wiederholender Gläser wartete, ein Bild kostbaren Überflusses. Timothy hatte jedes Glas mit einem andersfarbigen Getränk gefüllt, aber im Grunde war es immer dasselbe: ein ziemlich fades Konzentrat.
    Er registrierte zufrieden, wie seinem Gast die Augen aufgingen. Baxter griff nach dem karminroten Trunk, goß ihn hinunter, schickte den ultramarinblauen in langen, gierigen Zügen hinterher und holte sich dann ein Glas mit lindgrünem Inhalt, das er jedoch nur noch zur Hälfte schaffte. Er rülpste wollüstig.
    »Danke«, krächzte er, »das tut gut.«
    Timothy ließ Baxters Sessel in Liegestellung fahren und die vorbereitete Musik erklingen. Vivaldi. Baxter riß die Augen auf, als höre er zum erstenmal Musik. Timothy überlegte, aber in den Unterlagen hatte nirgends gestanden, ob Baxter schon mit Musik konfrontiert worden war. Nurse hatte auch nichts gesagt. Am liebsten hätte er Baxter gefragt, aber er brachte es nicht über sich, ihn jetzt zu stören. Baxter hatte die Augen geschlossen. Er lächelte verklärt.
    Timothy schlich auf Zehenspitzen hinaus und beobachtete den Flur. Nichts. Er sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten waren vergangen. Wahrscheinlich war Baxter mit der letzten Metro ins Haus gekommen und in dem Trubel niemandem aufgefallen. Aber Timothy mußte jetzt mindestens eine Stunde warten, bevor er den nächsten Schritt tun konnte. Die Anweisung des Großen Bruders war eindeutig: lieber Baxter opfern als die eigene Sicherheit. Er setzte die Nachricht ab, daß Telefon und Werbefläche gelöscht werden konnten.
    Baxter schlief, als Timothy zurückkam. Sein Mund stand offen, er atmete in hastigen, röchelnden Zügen. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

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