Wer stirbt, entscheidest du
da. Ein völlig gesundes, rot geflecktes, schreiendes Kind. Warm, zappelig und wunderschön an meiner Brust.
Meine Tochter war zäh. Furchtlos und impulsiv.
So leicht geriet man nicht in Panik mit einem Kind wie Sophie. Man überlegte: Was könnte sie ausgeheckt haben?
Ich ging ins Haus zurück und klopfte bei sämtlichen Nachbarn. Die meisten waren noch nicht von der Arbeit zurück; die wenigen, die ich antraf, hatten Sophie nicht gesehen. Ich überlegte fieberhaft weiter.
Sophie liebte den Park. Vielleicht war sie wieder bei den Schaukeln, obwohl sie den ganzen Nachmittag dort gespielt hatte, bis sie es selbst leid gewesen war und nach Hause wollte. Besonders gern war sie auch im Geschäft an der Ecke oder im Laundromat – wegen der rotierenden Wäschetrommeln, die sie offenbar faszinierend fand.
Ich ging zurück in die Wohnung, um nachzusehen, ob irgendetwas fehlte, Spielzeug etwa oder ihr Lieblingstäschchen. Als ich kurzerhand beschloss, mit dem Wagen nach ihr zu suchen und um den Block zu fahren, sah ich, was fehlte: Die Schlüssel zu meinem Streifenwagen hingen nicht mehr am Bord.
Alarmiert rannte ich die Treppe herunter. Kleinkinder und Streifenwagen passten nicht zueinander. Funkgerät, Sirene, Blaulicht … ganz zu schweigen von der Schusswaffe im Kofferraum.
Am Wagen angekommen, spähte ich durch das Fenster auf der Beifahrerseite. Das Innere schien leer zu sein. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, doch sie war verriegelt. Mit pochendem Herzen ging ich langsam um den Wagen herum, schaute durch alle Fenster, probierte jede Tür. Nichts, verriegelt, verriegelt, verriegelt.
Aber sie hatte doch die Schlüssel mitgenommen. Was mochte sie damit angestellt haben? Welchen Knopf hatte sie gedrückt?
Und plötzlich hörte ich sie. Ganz hinten im Wagen. Sie klopfte gegen den Kofferraumdeckel.
«Sophie?», rief ich.
Das Klopfen verstummte.
«Mommy?»
«Ja, Sophie, Mommy ist hier. Schätzchen …» Obwohl ich mich zu beherrschen versuchte, schraubte sich meine Stimme in schrille Höhen. «Alles in Ordnung mit dir?»
«Mommy», antwortete mein Kind ruhig und gelassen. «Bin eingeschlossen, Mommy, eingeschlossen.»
Ich schloss die Augen und ließ einen Schwall Luft ab. «Sophie, Schätzchen», sagte ich schließlich. «Du musst mir jetzt gut zuhören. Du darfst nichts anfassen.»
«Okay.»
«Hast du noch die Schlüssel?»
«Mmm-hmm.»
«In der Hand?»
«Nichts anfassen.»
«Nun, die Schlüssel darfst du anfassen, Schätzchen. Aber nichts anderes.»
«Bin eingeschlossen, Mommy.»
«Ich weiß, Schätzchen. Soll ich dich da rausholen?»
«Ja.»
«Okay. Auf einem der Schlüssel ist ein Knopf. Drück mit dem Daumen darauf.»
Ich hörte ein Klicken und eilte zur Fahrertür. Sophie hatte natürlich den falschen Knopf erwischt.
«Sophie, Schätzchen», rief ich. «Gleich daneben ist ein anderer Knopf. Den musst du drücken.»
Die Verriegelung der Fahrertür öffnete sich. Ich riss sie auf und klappte den Hebel für den Kofferraumdeckel um. Sekunden später stand ich vor meiner Tochter, ein eingerolltes Bündel in Rosa. Sie hielt meine Ersatzwaffe in der Hand und hatte den schwarzen Beutel neben sich, in dem ich meine Munition und weitere Ausrüstung aufbewahrte.
«Alles in Ordnung?», fragte ich.
Sophie gähnte und streckte die Arme nach mir aus. «Hab Hunger.»
Ich hob sie aus dem Kofferraum und stellte sie auf dem Gehweg ab. Sie zitterte vor Kälte.
«Mommy …»
«Sophie!», herrschte ich sie an, wütend jetzt, da ich sie in Sicherheit wusste. «Hör mir zu.» Ich nahm ihr die Schlüssel aus der Hand und ließ sie vor ihrem Gesicht klappern. «Die gehören nicht dir. Nimm diese Schlüssel nie wieder vom Bord. Verstehst du? Nie wieder!»
Sophie schmollte. «Nie wieder», maulte sie. Ihr schien bewusst zu werden, was sie angestellt hatte. Sie starrte vor sich aufs Pflaster.
«Und du verlässt nie mehr die Wohnung, ohne mir vorher Bescheid zu geben. Schau mich an. Wiederhole, was ich gesagt habe.»
Sie blickte aus feuchten blauen Augen zu mir auf. «Bescheid geben», flüsterte sie.
Nach dem fälligen Rüffel konnte ich sie nun über den Schrecken der vergangenen zehn Minuten hinwegtrösten und nahm sie in die Arme. «Du darfst deiner Mommy nicht noch einmal solche Angst einjagen», flüsterte ich ihr ins Ohr. «Im Ernst, Sophie. Ich liebe dich und will dich nicht verlieren. Du bist doch meine Sophie.»
Sie grub mir ihre kleinen Finger in die Schultern und drückte sich an mich.
Nach
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