Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater

Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater

Titel: Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Woche.
    »Die Einsamkeit habe ich mir schrecklicher vorgestellt«, sagte er, als die zwölf Wochen auf dem Brett voll waren. »Wo man auch ist … die Zeit hat ihr Wesen verloren, sie rast überall. Das ist beruhigend. Man rennt in das Alter hinein und vergißt darüber die Trostlosigkeit.«
    Für diesen wichtigen Tag hatte er sich den frühen Morgen ausgesucht. Er hatte sich an der Gummiinsel mit dem weichen Regenwasser gewaschen, hatte auf dem Deckel der Arzneikiste zwei Vogeleier gebraten und kalten, am Vorabend gebackenen Fisch gegessen. Die Sonne schwamm noch dicht über dem Meer, der Albatros war eben von den Brutplätzen auf dem Felsen herübergekommen, die Kühle der Nacht war noch nicht aufgesogen, vom Hang duftete der Atem der herrlichen Blumenfelder, die Bäcker zwar sehen, aber noch nicht erreichen konnte.
    »Fangen wir an, du verdammter Knochen!« sagte Bäcker. »Glaub nicht, daß ich Angst habe! O nein!« Er sagte es sehr laut, weil es gelogen war, denn er hatte Angst, einfache, tierische Angst, daß sein Bein sofort wieder brach, wenn er ihm gleich die Last des Körpers zumutete.
    Er wickelte die Bambusstützen, dieses Korsett aus starren Bambusrohren, von seinem Bein, hielt sich an einem Pfosten des Daches fest und sog die Luft laut durch die Nase ein.
    »Ich weiß nicht, wie du da drinnen aussiehst, Knochen«, sagte er, »aber ich weiß, was du gleich für eine Aufgabe hast. Das allein ist wichtig. Du hast zwölf Wochen Zeit gehabt, es dir zu überlegen, jetzt mußt du die Wahrheit sagen. Paß auf, Knochen, gleich stützt sich wieder ein Mensch auf dich.«
    Er schob die Gabel der Krücke unter seine linke Achsel, stemmte sie in den Boden, setzte den linken Fuß in den Sand und verlagerte vorsichtig sein Gewicht auf das gebrochene Bein.
    »Lauf nicht weg, Vogel, wenn gleich jemand schreit«, sagte er zu dem Albatros, der einen Meter vor ihm stand und leise gurrte. »Bleib hier. Ich brauche jemanden, den ich umarmen kann, wenn ich zehn Schritte gegangen bin, oder der neben mir steht, wenn ich besiegt werde.« Er sah an sich herunter. Das Bein, zum erstenmal seit Wochen entblößt, war bleich, schmal, dürr, häßlich durch den Muskelschwund, armselig. »Bist du bereit, Knochen?«
    Er belastete das Bein, hieb die Zähne aufeinander, wartete auf den stechenden Schmerz, der bis unter die Hirnschale zucken mußte. Die Zehen krümmten sich und krallten sich in den Sand – aber nichts geschah, nur ein Zittern durchflog ihn von den Augen bis zu den Fußsohlen und das erstaunliche Gefühl, links wie auf einer dünnen Säule aus Gummi zu stehen.
    Natürlich, dachte er. Zwölf Wochen nur ein Anhängsel am Körper, da verkümmern die Muskeln, da ist kein Saft mehr im Fleisch. Er bewegte die Zehen stärker als vorher, freute sich, daß die Sehnen gehorchten, daß er sich wie ein Vogel in den Sand krallen konnte, atmete noch einmal tief auf und machte dann den ersten Schritt.
    Die Knie gaben nach, er fing sich mit der Krücke auf, warf sich auf die Gabel, wartete auf ein Knirschen im Bein, auf den alles vernichtenden Schmerz – jetzt, dachte er, jetzt, das Bein ist selbst erstaunt, aber jetzt muß es durchbrechen – aber er stand, seine linke Fußsohle drückte sich deutlich in den Sand, sein Körper ruhte auf beiden Beinen.
    »Kapitulation!« schrie er da. »Kapitulation! Mein lieber Knochen, wir gewöhnen uns wieder aneinander.«
    Nach einer Stunde humpelte er, unterstützt von einem Stock aus Bambusrohr, vor dem Dach und der Böschung herum. Er ging hinunter zum Meer und brüllte: »Ich gehe! Ich gehe!« Er ging hinüber zum Hohlweg und schrie ins Innere der Insel hinein: »Ich gehe! Ich gehe!« Er stellte sich vor den Albatros hin, warf den Bambusstock weg und lief vier, fünf Schritte völlig frei und breitete dabei die Arme aus.
    »Ich gehe, Vogel, ich gehe! Ich habe den Knochen besiegt!«
    Er trank eine ganze Flasche voll Wasser, aß kalten Fisch, sammelte neue Kraft und humpelte dann wieder los, die Böschung entlang, immer nahe genug, um sich an ihr abzustützen oder anzulehnen. Er zwang sein Bein zu begreifen, daß es wieder eine Funktion zu übernehmen hatte.
    Und das Bein gehorchte.
    Am nächsten Tage begann er, seinen großen Plan zu verwirklichen: Er baute eine Hütte. Er nahm endgültig Besitz von Viktoria-Eiland.
    Alles, was an Holz, Palmblättern, Wurzelwerk und Bambusrohr herumlag, schleppte er zur Böschung. Mit dem Beil hieb er in der Nähe der Felsen schlanke rötliche Korallensäulen aus

Weitere Kostenlose Bücher