Wer stirbt Palmen ... 1: Der Vater
dieses verfluchte Meer, die Tücken des Wetters, den unberechenbaren Wind. Aber wir kennen nicht die Strömungen, in die wir kommen werden! Wir haben drei Wochen Fahrt gerechnet. So lange reicht das Wasser, können wir Vorräte mitnehmen. Wir können auch aber fünf Wochen unterwegs sein – oder sechs …«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Paul«, sagte Bäcker. »Aber wir können nicht mehr Gepäck mitnehmen. Ich habe es genau berechnet – wir haben jetzt schon die Grenze der Belastbarkeit des Bootes erreicht.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Rechnen ist Ihr Beruf.« Shirley ging zwischen den bleichen Gerippen hindurch und lehnte sich an die Totemsäule. Die blutroten Augen des Götzen glotzten in den auf ihn zuwandernden Mondschein. Die Fratze schien Leben zu bekommen, aus den Kerben kroch jene boshafte, unheimliche Kraft, vor der sich die Eingeborenen auf den Boden warfen. Shirley wirkte neben dieser drei Meter hohen Gottheit so elend und verlassen, als solle er geopfert werden.
»Ich denke nicht mehr daran zu lachen« – er holte tief Atem –, »ich denke daran, daß einer zuviel an Bord sein könnte. Daß einer weg muß, um zwei zu retten. Ein höllisches Problem, aber wir sollten vorher darüber sprechen. Nachher, wenn es nötig ist, ist's bestimmt zu spät. Dann werden wir uns zerfleischen. Ich meine nur, es sollten klare Verhältnisse herrschen, wenn wir morgen früh ins Boot klettern.«
»Ich verstehe, Paul.« Bäcker hinkte zu dem Totempfahl und bückte sich plötzlich. Von einem Gerippe hob er zwei Knochen auf. Sie stammten von einem Mittelfinger und einem kleinen Finger, ein deutlicher Längenunterschied, als Bäcker sie Shirley vor die Nase hielt.
»Wir werden uns nie einig, wenn wir darüber lang und breit diskutieren. Machen wir ein faires Spiel, einverstanden? Wer den kürzeren Knochen zieht, muß nach drei Wochen über Bord.«
Shirley zögerte. Er starrte die Fingerknochen an, schnaufte durch die Nase und hieb mit der Faust dem Götzen zwischen die blutigen Augen.
»Einverstanden, Werner!«
Seine Stimme klang verrostet. Es ist ein verfluchtes Gefühl, von einem kleinen Knochen abhängig zu sein.
»Ich rechne damit, daß Sie so fair sind, Paul, und keine Schwierigkeiten machen, wenn Sie den kleineren Finger ziehen«, sagte Bäcker ruhig.
»Ich bin zwar ein sturer Hund, aber kein Schwein, Bäcker«, fauchte Shirley zurück. »Außerdem bin ich der Pate Ihres Kindes … tot oder lebendig. Wird's ein Junge, muß er Paul heißen; ein Mädchen Paulette. Das müssen Sie halten, Werner.«
»Versprochen. Können wir?«
Bäcker legte die Hand auf den Rücken, wechselte die Knochen ein paarmal zwischen den Fingern, drückte sie an seine Hüfte, bis die herausragenden Enden gleichlang waren, und streckte dann die Faust Shirley entgegen. Als spiele Gott mit, fiel in diesem Augenblick der Mondschein voll auf Bäckers Hand.
Shirley wandte sich ab und ging ein paarmal hin und her. Dann wanderte er um den Totempfahl, zwischen den Gerippen hindurch, blieb stehen und blickte hinüber auf das sanft glitzernde, heuchlerisch ruhige Meer. Als er sich Bäcker endlich wieder zuwandte, lief ein heftiges Zucken über sein Gesicht. Er war kreidebleich.
»Ich habe Betty und drei Kinder –«, sagte er rauh.
»Ich habe Anne und ein Kind.«
»Das sind zwei weniger, Werner.«
»Shirley, enttäuschen Sie mich nicht! Bis jetzt waren Sie kein Feigling.«
»Ich war nie ein Feigling!« brüllte Shirley. »Das ist das letzte, was man von mir sagen kann! Geben Sie die Hand her!«
Bäcker streckte sie weit von sich. Shirley betrachtete die Oberkante der Knöchelchen sehr genau, erbärmlich dünne, weiße Kuppen zwischen den zusammengepreßten Fingern Bäckers. Sie sahen beide gleich aus, sehr schmal: ein Todesurteil, kaum einen Zentimeter breit. Es mußte eine zierliche Frau gewesen sein, der einmal diese Finger gehört hatten. Mit ihnen hatte sie einen Mann gestreichelt, ein Kind versorgt, Mehl gerieben, das Feuer mit einem Fächer angeblasen, ein ganzes Leben lang gearbeitet. Jetzt verteilten die Knochen dieser Finger den Tod.
»Werner –«, stöhnte Shirley tonlos.
»Ziehen!« antwortete Bäcker. Auch seine Stimme war unsicher.
Shirley tippte auf den linken Knochen. »Hier! Verdammt, machen Sie jetzt die Hand auf!«
Bäcker öffnete die Faust. Er sagte nichts; er warf die Knochen zurück zu dem Gerippe und wandte sich ab.
Shirley hatte den längeren gezogen.
»Sie sind dran, Werner!« sagte Shirley. Aber
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